Berliner Weihnacht vor 150 Jahren. Erinnerungen aus der Kinderzeit eines alten Berliners.

Berlin war gegen die Siebziger Jahre des vorletzten Jahrhunderts hin noch ganz die kleine preußische Residenz, wie sie uns die Schriftsteller der dreißiger Jahre geschildert haben. Die kleinen einstöckigen Häuschen in den Nebenstraßen der Friedrichstraße, sogar in der Nähe der „Linden“, die Kellerhälse, die hohen Pumpen – Plumpen nannte sie der Berliner -, die Marktstände und anderes waren noch ganz so wie damals erhalten. Die Stadt hatte die Schwelle zu ihrer Großstadtherrlichkeit noch nicht überschritten. Und so hatte auch die Bevölkerung sich noch das Gepräge der dreißiger Jahre erhalten, ihrer besten Zeit seit Bestehen Berlins, wo man zum ersten Male von einem einheitlichen Gesicht, einem bestimmten berlinischen Zuge und einem “leisen Bürgerbehagen“ hatte sprechen können. Ueber dem Ganzen lag noch jener familiäre Zug der Kleinstadt.

So wird man es verstehen können, wenn ich erzähle, dass der Beginn des Weihnachtsmarktes ganz Berlin in Aufregung versetzte. „Am Zehnten werden die Buden aufgebaut“, lautete das geflügelte Wort, sobald der Dezember gekommen war, in allen Familien, und es gab, sobald der Weihnachtsmarkt begonnen hatte, keinen Kreis von Familien oder Freunden, in dem nicht wenigstens eine Partei so lange getrieben hätte, bis man gemeinsam in großer Gesellschaft zum Besuche des Weihnachtsmarktes auszog.

Gleichzeitig mit dem Markte verkündeten die Weihnachtsbäume und die „Pyramiden“ den Beginn der Weihnachtsherrlichkeit. Die Pyramiden, im Volksmunde allgemein „Perhamiden“ geheißen, überwogen. Sie bestanden aus vier mit Tannenreisig – „Tanger“ hübsch vom Volke genannt – umkleideten Stangen, die oben an der Spitze einen Bausch von Tannenreisig, am Fuße einen Boden mit kleiner Galerie trugen. Dort hockten im heimlichen Tannengrün versteckt kleine weiße Schäfchen, aus Gips oder Watte hergestellt, Die Pyramide war noch mit bunten Tapetenbändern und Quasten von Rauschgold oder Goldschaum geschmückt. An den vier Ecken trug sie übereinander je drei bis vier Leuchter, im ganzen gewöhnlich zwölf bis sechzehn Lichter, und wenn sie in ihrer leuchtenden Pracht auf dem Weihnachtstische inmitten aller Herrlichkeiten stand, erschien sie uns Jungen besonders eindrucksvoll. Kleine Spenden von Pfefferkuchen waren geeignet, die Vorfreude des Festes wachzuerhalten. Sie stifteten ungleich mehr Freude als heute, wo jedes zehnte Haus fast ein Konfitürengeschäft enthält und diese Leckereien „gang und gäbe“ sind.

Das damals volkstümliche Weihnachtsgebäck ist heute zum Teil gänzlich verschwunden. Da gab es unter anderem „Mehltuten“, aus denen man sich scherzweisee gegenseitig Mehl ins Gesicht blies: aus bemehltem Pfefferkuchenteig gewickelte Röhren, gegen 20 Zentimeter lang, etwas über zwei Finger dick, kleine Würfel, ungefähr von Fingerdicke, allerlei Menschen- und Tierfiguren aus flachem Teig, runde Plätzchen, braun und hell. Die zartere Gattung führte einen seltsamen, aber allgemein verbreiteten Namen, den man auch heute noch manchmal für kleine Suppenmakronen gebraucht und der mit „Nonne“ zusammenhängt.

Und nun der Weihnachtsmarkt, das Dorado des Vergnügens und Ulkes für alle Stände. Er begann in der Gertraudtenstraße an der Petrikirche, zog sich durch die Breite Straße in mehreren Reihen vom Köllnischen Fischmarkt bis zum Schloß, auf dem Schloßplatze vom Roten Schloß bis zur Kurfürstenbrücke, im Lustgarten von der Schloßbrücke bis zur Kurfürstenbrücke, endlich durch die Schloßfreiheit zwischen dem Schloß und den Häusern hindurch, die anstelle des heutigen Kaiser-Wilhelm-Denkmals standen. Also um das alte Schloß herum, das gerade gut genug war, all dem Lichterglanz, Lärm und Jubel als Folie zu dienen. Durch die langen Budenstraßen hindurch, wo Bude an Bude, Licht an Licht stand, fluteten in dichtem Gewimmel Herren, Damen, Männer, Frauen und Kinder mit Hampelmännern in den Knopflöchern, blasend, Knarren und „Waldteufel“ schwingend, sich gegenseitig mit Gumminasen, Springteufeln und allerlei Scherzartikeln neckend. Rufen und Gelächter an allen Ecken und Enden. Man war wie toll. In den heiteren Lärm hinein drang der stereotype, schmetternde Aufruf aus den Buden “Grrroschen das Stück“, „Stück“ scharf betont, von der Straßenschwelle her von Kindern gerufen: „Einen Dreier det Schäfken“. Ein primitives Spielzeug, ein hölzerner Vogel, bei dem Kopf und Schwanz durch eine Feder mit daranhängender Kugel beweglich waren, wurde überall mit dem Rufe „vorn pickt er, hinten nickt er“ angepriesen.

Die Krone all der Weihnachtsgenüsse, das Paradies für uns Jungen, aber boten die Schmalzkuchenbuden. Der eigenartige Duft, der von dem siedenden Fett, mit der frischen Winterluft gemischt, über den Markt strich, der Schmalzkuchenduft, der erzeugte eigentlich erst den richtigen Weihnachtsrausch. Keiner, der je ohne Schmalzkuchen vom Weihnachtsmarkte gegangen wäre. Es gab mehrere dieser weißen Buden, in deren lichterstrahlendem Innern hellgekleidete Mädchen mit fabelhafter Schnelligkeit die Tüten füllten, den Zuckerstreuer schwangen und sie – jede Tüte einen Groschen – über die fröhliche Menge, die in vier Reihen die Bude belagerte, hinwegreichte. Keiner fragte nach den Zutaten des Gebäckes. Hier schmeckte es wie Götterspeise, die Erinnerung daran währte das ganze Jahr hindurch.

Solcher Art waren die Weihnachtsfreuden in Berlin vor fünfzig Jahren. Die Mittel klein, die Freude groß und ursprünglich. Selige Zeiten für den, der mit seiner Kindheit sich an sie zurückerinnert. Oscar Bolle.

 

Anmerkungen.

Der von dem Schriftsteller und Fotografen Hermann Oscar Bolle (1856 – 1929) über die Berliner Weihnacht verfasste Artikel wurde 1921 in einer Berliner Tageszeitung abgedruckt. Mit den „Erinnerungen aus der Kinderzeit eines alten Berliners“ meinte er sicher seine eigene Vergangenheit. Der Artikel wurde bis hin zur damaligen Rechtschreibung unverändert übernommen. Allerdings wurde in der Überschrift die damals zutreffende Angabe von 50 Jahren auf nunmehr 150 Jahre geändert, um nicht zu irritieren. Auch die Abbildungen waren in der Originalfassung nicht enthalten. Sie wurden aus anderen Quellen eingefügt.

Doch wer war Oscar Bolle? Ein Lebenslauf des Mannes ließ sich nicht ermitteln. Auch ein Personenfoto konnte nicht ausfindig gemacht werden. So ist nicht bekannt, wo (sicher in Berlin) Bolle geboren wurde, welche Schule er besuchte und welche berufliche Tätigkeit er zunächst ausübte. Die Spurensuche wurde erst von 1887 an erfolgreich. Bolle war zu dieser Zeit Kaufmann und erwarb am 4.10. durch Eintragung beim Berliner Königlichen Amtsgericht I das Handelsgeschäft C. A. Federhart Nachfolger, Inhaber Siegfried Zielinsky. In der 1865 gegründeten Fabrik mit Sitz in Berlin S, Alte Jacobstr. 70, wurden Luxus-Kartonagen und Bonbonnieren hergestellt, Spezialitäten waren Neuheiten in Fantasie- und Galanterie-Artikeln, auch ein Atelier für Attrappen und Theater-Requisiten war vorhanden. Es wurde zudem exportiert. Bolle, in Berlin SO, Michaelkirchstraße 31 wohnhaft, war mithin nicht unvermögend. Bereits ein Jahr später, am 20.9.1888, trat der Kaufmann Noddy Alfred Franck in Bolles Handelsgeschäft als Gesellschafter ein. Für die nun entstandene offene Handelsgesellschaft (OHG) war nur Bolle vertretungsberechtigt. Die Fabrikation von Neuheiten für Confiserie, Parfümerie, Galanterie, Luxus-Kartonagen, Bonbonnieren und Fantasie-Artikeln blieb am bisherigen Standort ähnlich, auch der Export. Dies ist bis 1891 belegt, während sich in den Folgejahren Bolles berufliche Aktivitäten nicht eindeutig klären lassen.

Am 3.8.1897 trat Kaufmann Bolle, in Berlin W, Winterfeldtstraße 30 a wohnhaft, als Gesellschafter in das Handelsgeschäft des Verlagsbuchhändlers Carl Franz Regenhardt ein. Bei der Firma in Berlin W, Kurfürstenstraße 37, handelte es sich auch um eine Druckerei. Als im Sommer 1900 Regenhardt verstarb, wurde die OHG aufgelöst, Bolle schied aus der Firma nach der Liquidation und einem rechtsgültigen Vergleich aus.

In der Folgezeit arbeitete Bolle, jetzt wohnhaft in Wilmersdorf, Berliner Straße 23, in der Buchhandlung für Architektur und Kunstgewerbe in Berlin SW, Anhaltstraße 16/17, deren Inhaber (ausschließlich) Bruno Hessling war. Allerdings besaß Bolle hier Prokura, die wohl im Zusammenhang mit seinem Ausscheiden aus der Firma am 28.11.1904 erlosch.

Für Oscar Bolle begann nun offenbar mit der Aufgabe seiner bisherigen beruflichen Tätigkeit ein neuer Lebensabschnitt. Bis zu seinem Lebensende gab er jetzt für seine Person als Beruf stets „Schriftsteller“ an. Einzig im Jahre 1914 bezeichnete er sich – wohl nicht ganz unbescheiden – als „Privat-Gelehrter“. Bolle machte sich unzählige Male auf, die märkische Landschaft zu entdecken. Ob Kiefernwälder, Seen, Schilf- und Sumpflandschaften, die eigenartigen Reize von Havel und Spree, nichts blieb ihm verborgen. Er wusste auch „die lieben, traulichen märkischen Städtchen mit ihren alten Türmen und Mauerwehren, dem ´Hansazeichen´ mitunter noch auf Tor oder Rathausgiebel“ zu schätzen, so seine eigenen Worte. Bolle nahm auf seinen Touren durch die Mark Brandenburg stets eine Foto-Ausrüstung mit. Das verwundert nicht, wenn man weiß, das er 1902, 1903 (?) und 1904 bei der Photographischen Gesellschaft Charlottenburg, 1905 – 1906 beim Camera-Club Charlottenburg, 1907 bei der Photographischen Gesellschaft Charlottenburg (jetzt „Liebhaberverein“) und 1909 – 1911 bei der Photographischen Gesellschaft („Amateurverein“) jeweils Vorsitzender war. Vielleicht bestand beim erstgenannten Verein ja auch von 1902 – 1911 eine durchgehende Mitgliedschaft.

Die vielen Entdeckungstouren, das hier angeeignete Wissen und die zahlreichen Fotos führten dazu, dass Bolle als Vorsitzender der „Vereinigung zur Förderung des Interesses an märkischer Natur und Heimat“ mit regelmäßigen Vortragsabenden begann. Es entstanden von September/Oktober eines Jahres bis etwa Mai des Folgejahres regelrechte „Winterzyklen“, in denen Bolle in Sälen (z. B. im Hörsaal des königlichen Kunstgewerbemuseums, im großer Konzertsaal des Hotels „Deutscher Hof“ oder im Festsaal des Märkischen Museums) gut besuchte Vorträge hielt und hierbei 100 – 120 Lichtbilder zeigte. Die Farbfotografie setzte sich ja erst in den 1930er-Jahren langsam durch. Deshalb waren alle großformatigen Lichtbilder, die gezeigt wurden, noch handkoloriert. „Die vorgeführten farbigen Lichtbilder, die sich durch wunderbare Plastik auszeichneten, fanden das Entzücken aller, so wurde dem Vortragenden reicher Beifall zuteil.“ So berichtete im November 1911 eine Zeitung über eine Veranstaltung. Bolles Bilder sind übrigens erhalten geblieben. Sie gehören zum Bestand des Stadtmuseums Berlin.

Für die Vorträge war anfangs ein Eintritt von weniger als 1 Mark zu bezahlen, später inflationsbedingt schon (April 1922) 5 bzw. 6 Mark. Eintrittskarten und auch Prospekte für alle Vorträge in einem Winterzyklus gab es u. a. auch im Kaufhaus Wertheim. Zum Zeitungsbericht über 10 Jahre „Märkische Vorträge“ vom Januar 1917 ist zu bemerken, dass Bolle schon vor 1907 entsprechende Veranstaltungen durchführte. Als Beispiel sei der 23.2.1906 genannt, als über „Die Havel (von der Quelle bis zur Mündung)“ berichtet und 105 Lichtbilder gezeigt wurden.

Es folgt eine unvollständige Aufstellung von Themen, die Bolle für seine „Märkischen Vorträge“ in Wort und Bild verwendete und die ihn in weiten Kreisen Berlins bekannt machten:

Die Havel (von der Quelle bis zur Mündung) – Die Spree, eine Wanderung von der Quelle bis zur Mündung – Märkischer Sand – Über die Märkische Schweiz in die Neumark – Land und Leute in der Uckermark – Maientage der Ruppiner Schweiz und die Landschaft der Prignitz – Berlin einst und heute – Wanderung über Buckow, Freienwalde, Schlaubetal – Fließ- und Seeidyllen bei Berlin – Märkische Landschaften am Großschiffahrtswege Berlin-Stettin – Vor den Toren Berlins.

Über die eigentlichen „Märkischen Vorträge“ hinaus besuchte Bolle zudem spezielle Veranstaltungen. Am 18.1.1910 sprach er vor dem „Ausschuss der Aquarien- und Terrarienvereine“. Der Vortragsabend stand unter dem Motto „Märkischer Sand, malerische Wanderungen in die Umgebung Berlins (zur Kenntnis von Geologie, Baugeschichte und Landschaft der Mark)“, 105 farbenprächtige Bilder wurden gezeigt. Eintritt 20 Pfennig. Ein weiteres Beispiel: Am 26. März 1914 fand im großen Hörsaal der Königlich landwirtschaftlichen Hochschule in der Invalidenstraße 42 ein Vortrag Bolles zum Thema „Landschaftliches und gärtnerisches aus der Mark Brandenburg“ mit 100 Lichtbilderaufnahmen „in natürlichen Farben“ statt. Über 200 Mitglieder und Gäste der Deutschen Gartenbau-Gesellschaft folgten ihm „mit lebhaftestem Interesse“.

Bolle, der seit 1912 nach vielen Umzügen bis zu seinem Tod in Wilmersdorf, Wilhelmsaue 34 wohnte, bezeichnete sich ja selbst auch als Schriftsteller. Artikel und Broschüren heimatkundlichen Inhalts sind bekannt, so seine Zeitungsbeiträge über „Berliner Weihnacht von 50 Jahren“ (1921) und „Karneval in Alt-Berlin“ (1923). Rund 100 Seiten umfasst seine 1912 herausgegebene Broschüre „Die Märkischen Sommerfrischen“, die von A wie Alt-Buchhorst bis Z wie Züllichau eine Vielzahl an Ortschaften aufführt, die er für einen Besuch als bereits anerkannte oder auch künftig denkbare „Sommerfrischen“ empfahl. Wenn er hier allerdings auch Tegel mit aufführte, kann das etwas zwiespältig gesehen werden. Der Ort hatte ja im Dezember 1910 schon 22442 Einwohner, ein Gemeinde-Gaswerk, ein Städtisches Gaswerk (das größte Europas) und das große Borsigwerk. Weitere schriftstellerische Werke Bolles mag es durchaus geben, ließen sich aber für den Schreiber dieser Zeilen bisher nicht ermitteln.

Seine „Märkischen Vorträge“ bot Bolle zumindest bis 1924 an. 1927 berichteten Berliner Zeitungen über seinen 70. Geburtstag (am 16.6.). „Tausende von Berlinern werden sich bei diesem Anlass mit vieler Freude seiner Vortragsabende erinnern, die stets vor dicht gefülltem Saale stattfanden und das gebildete Publikum aller Gesellschaftskreise anzogen“, so die Berliner Börsen-Zeitung vom 11.6.1926. Oscar Bolle verstarb 1929.