Es gab einmal eine Kneipe in Tegel, die alle kannten, obwohl kaum jemand hinging. Ja, Eltern verboten ihren Heranwachsenden, erst recht den Mädchen, diese Kneipe aufzusuchen: die „Kajüte“. Die Kajüte war übel beleumdet und stand unter Beobachtung der Kripo. Warum?

Hier trafen sich gewisse junge Leute gleichen Lebensstils, durchschnittlich einhundert, Mädels waren auch dabei, meist am Wochenende, aber auch schon am Donnerstag. Manchmal – es war wohl 1957 – starteten donnerstags bis zu 100 Motorräder von der „Kajüte“ aus zu ihrer Fahrt durch die Stadt, zur „Bierschwemme“ in Schöneberg oder zum „Rififi“, zu Kneipen ähnlichen Rufs wie die „Kajüte“ in Tegel. Für die Polizei stellte ein solcher Aufmarsch von Halbstarken, wie man sie damals nannte, eine echte Herausforderung dar, sie sah darin auch eine Verkehrsgefährdung.

Wen man heute alteingesessene Tegelern fragt, bekommt man immer die gleiche Antwort: „Klar kenn ich die Kajüte.“ Nachfrage: „Und – haben Sie dort verkehrt?“ – „Nein, natürlich nicht. Das durfte ich nicht. Eltern munkelten sogar von Prostitution.“

War die „Kajüte“ wirklich so schlimm und gefährlich? Die, die sie aufsuchten, wollten tanzen, wild tanzen; dort gab es Rock `n` Roll aus der Juke-Box. Also war die „Kajüte“ ein wenig Teil der rebellischen Jugendkultur. Aber nicht nur das. Hier trafen sich auch die Schlachtergesellen aus Tegel und aus Spandau. Man maß gelegentlich seine Kräfte. Die einen trainierten im Spandauer Box-Club, die anderen im Borsigwalder namens BC Concordia.

Die Spandauer Schlachtergesellen sollen besonders kräftig gewesen sein. Wer den Kürzeren zog und unterlag, wurde gelegentlich ins Wasser geworfen.

Und wo fand man die „Kajüte“? Sie war eine Kellerkneipe im „Tusculum“, einem großen renommierten Ausflugslokal, 1910 an Stelle eines einfacheren Vorgängerbaus errichtet – ungefähr dort, wo heute das „Hotel am Tegeler See“ am Anfang der Wilkestraße leer steht – wegen geplanter Sanierung. Im „Tusculum“ musste man in anständiger Kleidung erscheinen, die „Kajüte“ hingegen zählte zu den Kutscherkneipen, in denen nach altem Brauch auch die Kutscher mit aufgekrempelten Hemdsärmeln ihr Bier bekamen und sich mit anderen Kutschern trafen. Kellerkneipe – das verströmte schon ein wenig Atmosphäre von Verruchtheit. Hinzu kam, dass das Tusculum im Krieg teilweise zerstört worden war. Nur in der „Kajüte“ konnte der Betrieb aufrechterhalten werden. Kellerkneipe in einer Ruine – das schuf noch mehr Atmosphäre.

Der Besitzer einer Leichtmetallgießerei, Ingenieur Walter Koch, hatte große Pläne: Mit sozialem Wohnungsbau ließ sich Geld verdienen, es gab immer noch zu wenig Wohnungen in Berlin-West, obwohl doch nach Chruschtschow-Ultimatum und Mauerbau viele Betuchte die Stadt verließen, weil sie nicht daran glaubten, dass der Westen West-Berlin gegen „die Russen“ verteidigen würde. Also Wohnungsbau am Tegeler See. Dazu mussten die Ruine des Tusculum und das „Strandschloss“ abgerissen werden. Und die „Kajüte“ mit. So ging ein Stück Tegeler Untergrund verloren. Anstelle des Tusculums ließ Walter Koch das Gebäude für die beiden Großrestaurants „Seeterrassen“ und „Palais am See“ errichten, dichter ran ans Wasser für den schönen Ausblick. Als Architekten engagierte Koch den gebürtigen Tegeler Heinz Schudnagies, geboren in Alt-Tegel 12. Schudnagies durfte den Wohnkomplex aus Neptun und Nixe, die „Seeterrassen“ plus „Palais am See“ und später noch das „Hotel garni“, wie das „Hotel am Tegeler See“ damals hieß, direkt gegenüber den „Seeterrassen“, entwerfen – und noch manchen anderen Bau in Tegel. Die „Seeterrassen“ erhielten im Keller auch eine Kegelbahn. Diese Kegelbahn gibt es heute immer noch – in Räumen neben der  „Hafenbar“. Die Hafenbar ist in gewisser Weise die Nachfolgerin der „Kajüte“. Auch wenn es heute dort gesitteter zugeht, zu Rock `n` Roll-Musik wird nach über 60 Jahren wieder getanzt.

Nach langer Zeit ist Hans Lehmann an den Ort seiner Jugend zurückgekehrt, jetzt also in die „Hafenbar“, und wieder zum Tanzen. Er ist in Alt-Tegel 8 aufgewachsen. „Alles kann ich nicht erzählen. Wir haben ja schlimme Sachen gemacht.“

„Ist doch verjährt, Herr Lehmann.“

„Na gut. Angefangen hat es mit Äpfelklauen in den Gärten hier am Medebacher Weg bis zum Hafen runter, damals gab es hier noch Gärten. Wenn wir verfolgt wurden, entwischten wir: vorne rein ins Haus in Alt-Tegel, hinten wieder raus. Wir kannten uns ja aus. Aber wenn man erwischt wurde, gab es ein paar hinter die Ohren, keine Anzeige bei der Polizei oder so.

Und die Kajüte? Na ja, Cliquen aus allen Bezirken kamen hierher, sie liebten diesen Treffpunkt am Tegeler See. Da gab es einen Kleinen, der wurde „Hadschi“ genannt. Das ging zurück auf Karl Mays Figur Hadschi Halef Omar in Karl Mays Bänden mit den Orient-Abenteuern. Hadschi warf immer lockere Sprüche um sich und war deshalb sehr beliebt, er hatte als Stewart auf einem deutschen Überseeschiff gearbeitet. Weil er so klein war und ne dicke Brille trug, wäre er leicht das Opfer gewesen, aber alle haben ihn beschützt. Dem durfte keiner was tun, im Gegenteil, er bekam gelegentlich sogar einen Schnaps ausgegeben.

Ich sympathisierte ja auch mit der Totenkopfbande, die sich in der „Kajüte“ traf. Von den Mitgliedern hatten etliche schon im Knast gesessen. Wir waren an den Krawallen in der Afrikanischen Straße 1956 beteiligt, alle Zeitungen berichteten darüber. Dabei wollten wir nur im Konvoi mit unseren Motorrädern, ich fuhr einen Heinkel-Roller, durch die Afrikanische Straße fahren. Aber die Polizei hatte die Straße abgesperrt und fuhr einen Wasserwerfer auf. Ich bekam den Strahl des Wasserwerfers mit voller Wucht auf die Brust, flog im hohen Bogen durch die Luft und erlitt eine sehr schmerzhafte Rippenprellung. Aber zu Hause durfte ich natürlich nicht sagen, was ich hatte und wo es herkam. Es hätte sonst eine Tracht Prügel gesetzt.

1957 wurden acht von uns in der „Kajüte“ verhaftet. Sie hätten sich verschiedener Terrorhandlungen schuldig gemacht, sagte die Polizei. Was heißt schon Terror? Wir haben Autos geknackt, das war damals ganz leicht, einfach den Zünder kurzgeschlossen; ich hatte Automechaniker gelernt, kannte mich also aus. Und dann eine Spritztour durch die Stadt unternommen. Die Autos ließen wir in Tempelhof oder in anderen Bezirken stehen. Aber kaputtgemacht haben wir die Autos nicht.

Wir wurden etwas abfällig „Halbstarke“ genannt, da schwang auch eine Wut auf diese unangepassten Jugendlichen mit. Ich hatte mir ein großes Poster von James Dean an die Wand meines Zimmers gehängt, „ … denn sie wissen nicht, was sie tun“, zwei mal zwei Meter. Die Bravo veröffentlichte die Einzelteile zum Ausschneiden, erst ausschnippeln und dann zusammenkleben; nach ein paar Wochen war das große Poster vollständig.

Es war schon hart in der „Kajüte“, hier ist mein Freund U. Platzeck bei einem Streit erstochen worden. Worum es ging, weiß ich nicht mehr.“

Hans Lehmann macht eine Pause. Vielleicht hängt er den Gedanken an seinen Freund nach.

„Ich hatte es auch nicht leicht. Mein Vater war im Krieg geblieben, und meine Mutter lebte mit einem Franzosen zusammen. Der gehörte zu den Wärtern im alliierten Kriegsverbrechergefängnis in Spandau mit Schirach, Hess und Dönitz.

Alkohol spielte bei meiner Mutter und dem Franzosen eine große Rolle, ich kann da nicht „Stiefvater“ zu dem sagen. Mir haben sie mal mit einem Messer in den Arm gestochen und mit einer Schere in den Rücken. Wenn der Franzose von der Arbeit nach Hause kam, zeigte meine Mutter auf einen meiner beiden Brüder – oder sogar auf uns drei – und sagte zu ihm: „Den und den und den musste heut verdreschen.“ Dann löste der Franzose seinen Gürtel und schlug zu, ohne zu wissen warum.

Am liebsten wäre ich abgehauen, aber man war ja erst mit 21 volljährig.

Natürlich fand ich Gelegenheit, trotz des Verbots in die Kajüte zu gehen. Unter den Leuten dort fühlte ich mich wohl. Die sagten zu mir: „Komm mit zur Concordia!“ Das war ein Box-Club in Borsigwalde. Hab ich gemacht, und bin dann einmal im Ring gestanden. Aber als Brillenträger ist man ohne Brille sowieso im Nachteil. Gleich in der ersten Runde wurde ich ausgeknockt. Nie wieder Box-Club.

Ein Jahr nach der U-Bahn-Eröffnung wollte ich mit der U-Bahn fahren. Drei Jungen in meinem Alter fragten mich nach Zigaretten. Ich rauchte nicht, hatte also auch keine Zigaretten dabei. Da warfen sie mich die Treppe runter. Das soll dir nicht noch mal passieren, dachte ich, und meldete mich zum Judo-Kurs beim VfL Tegel an.

Ich wartete sehnsüchtig, bis ich 21 war, dann bin ich wirklich sofort abgehauen, mit zwei Freunden – weg von den ungeliebten Eltern. Erst bei meinen späteren Schwiegereltern erfuhr ich elterliche Liebe. Das hat mich grundlegend verändert.

Als meine Mutter später bei einem Autounfall in der Gorkistraße starb – der Franzose war auf einen Laster aufgefahren – wollte der Pfarrer von Alt-Tegel, ich meine, er hieß Herr Lendt, der mich auch konfirmiert hatte, meine Mutter nicht beerdigen; sie hätte „in Sünde“ gelebt, weil sie den Franzosen nicht geheiratet hatte. Ich war empört über Pfarrer Lendt; gern und regelmäßig hatte er uns besucht und immer seinen Kognak bei meinen „sündigen“ Eltern getrunken. Wütend trat ich aus der Kirche aus.

Als ich Tegel verlassen hatte, wurde die „Kajüte“ abgerissen. Ich kam erst nach acht Jahren zurück nach Reinickendorf.“

Nun sitzt Hans Lehmann in einer Tanzpause in der „Kajüte“ und erzählt von alten Zeiten. Nächstes Jahr feiert er seinen 80. Geburtstag.

Der WDR meldete am 13. Oktober 1956: „Um ganze 87 Prozent ist in Deutschland im Vergleich zum Jahr 1933 die Jugendkriminalität angestiegen. Die Erwachsenenkriminalität nahm dagegen nur um 33 Prozent zu.“ Die „Verrohung“ der Halbstarken wurde vor allem auf die Kriegs- und Nachkriegserfahrungen zurückgeführt. James Dean und Horst Buchholz in „Die Halbstarken“ galten als Helden der Halbstarken-Meuterei – auch für Hans Lehmann.

 

Meinhard Schröder