Die Jahrhundertfeier der Freiheitskriege auf der Tegeler Freilichtbühne
In ganz Deutschland wurden im Jahre 1913 Feierlichkeiten zur Erinnerung an die Befreiungskriege gegen Napoleon I. vor 100 Jahren durchgeführt. Beispielsweise fand mit 2000 Mitwirkenden in der gerade fertiggestellten Festspielhalle (Jahrhunderthalle) in Breslau das „Festspiel in deutschen Reimen“ anlässlich der Jahrhundertfeier der Freiheitskriege statt, das von Gerhard Hauptmann verfasst und von Professor Max Reinhardt inszeniert wurde. Zur Premiere am 31.5.1913 wurde sogar in Berlin um 1014 Uhr ein Sonderzug eingesetzt. Die Eintrittspreise bewegten sich zwischen 250 und 11 Mark. Den offiziellen Kartenverkauf hatte das Kaufhaus Hermann Tietz in der Leipziger Straße und am Alexanderplatz übernommen.
Protektor der Veranstaltung war Prinz Wilhelm. Er äußerte sich allerdings negativ über das Werk. Ohnehin gab es von Anfang an viel Widerstand, weil Napoleon verherrlichend dargestellt wurde. Die Aufführungen wurden dadurch vorzeitig eingestellt.
Doch Berliner und Bewohner der Umgebung der Kaiserstadt mussten nicht nach Breslau fahren, wenn sie sich ein „vaterländisches Theaterstück“ ansehen wollten, das sich mit dem Thema „Freiheitskampf anno 13“ beschäftigte. In Tegel wurde nämlich eine Freilichtbühne errichtet, die den Besuchern Festspiele mit dem Titel „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los“ bot. Es war sogar, wenn man so will, eine „Bühne mit Gleisanschluss“, denn am 28.5.1913 wurde auch die Straßenbahn der Gemeinde Heiligensee eingeweiht, die zwischen Tegel und Heiligensee bzw. Tegelort verkehrte. Am 29.5. nahm sie ihren normalen Fahrbetrieb auf. Nachfolgend wollen wir das Freilichttheater und die Aufführungen näher betrachten.
Es waren Einwohner von Tegel, unter ihnen der damalige Gemeinde-Obersekretär Paul Zwiebel, die mit großem Interesse den Plan verfolgten, im Ort ein vaterländisches Theaterstück aufführen zu lassen, in dessen Mittelpunkt Theodor Körner und seine Jäger stehen sollten. Schließlich hatten auch die Bauern des kleinen märkischen Dorfes Tegel unter den Soldaten Napoleons zu leiden. Zwiebel und weitere Tegeler setzten sich mit Schauspielern in Verbindung, die im Tegeler Vereinshaus auftraten. Schnell wurden sich alle Beteiligten einig. Der Tegeler Schlossherr stellte für die Ausführung des Planes an der von Tegel aus gesehen rechten Seite der Karolinenstraße ein Gelände zwischen dem Fließ und dem Weg nach Hermsdorf zur Verfügung. Bauunternehmer Müller stellte in kurzer Zeit an einer Lichtung, deren sanfte Abhänge die Anlage wie ein richtiges Amphitheater erschienen ließen, lange Bankreihen mit Sitzplätzen für 1500 Besucher auf. Im „Tal“, das die Naturbühne bildete, errichte Müller vier (lt. Plan 3) hölzerne Bauernhäuschen und einen Brunnen. Damit war ein Marktplatz entstanden. Das Dorf, von mächtigen Eichen umstanden, sollte man sich in der Nähe von Leipzig gelegen vorstellen. Mit zwei Kassen, Buden für Kaffee- und Bierausschank, WC-Anlagen und natürlich einer hölzernen Direktionsbude vervollständigte Müller die Aufbauten für das Freilichttheater.
Künstlerischer Leiter der Bühne wurde Oberregisseur Heinrich Frey aus Berlin. Er hatte bereits 1912 die Spiele auf dem Pichelswerder geleitet. Zuvor wurde das von Delbrück geschriebene Stück schon in Sangershausen, Wiesbaden und anderen Orten mit großem Erfolg aufgeführt. 200 Personen traten in dem Stück auf. Neben Schauspielern standen auch Humboldtschüler und ältere Tegeler als Komparsen auf der Bühne. Die Vorstellungen fanden dienstags, donnerstags und sonntags jeweils um 1630 Uhr statt; Sondervorstellungen waren möglich. Die Eintrittspreise waren mäßig, wie die Zeitungsanzeige vom 28.5.1913 zeigte. Vereine und Schulen erhielten zudem besondere Vergünstigungen. Der Ertrag der Veranstaltungen war für Kriegsveteranen bestimmt. Bereits 1912 hatte Kurt Delbrück das Textbuch für das Volksschauspiel zur Jahrhundertfeier in 5 Akten unter dem Titel „Das Volk steht auf“ geschrieben und im Verlag von G. Danner, Mühlhausen/Thüringen, veröffentlicht. Dabei hatte er bewusst die Vorgänge der Kriegsjahre nicht in ein geschlossenes Drama gezwängt. Vielmehr waren es einzelne der unzähligen Geschehnisse, die sich in Dörfern, Familien, Schlössern und Kanzleien zutrugen und vom Autor aufgegriffen wurden, um in Bildern, Episoden und Skizzen die Verzweiflung und die Wut der Menschen jener Zeit widerzuspiegeln.
Am Nachmittag des 25.5.1913 fand im neuen Freilichttheater zu Tegel eine Kostümprobe statt, die gegen 17 Uhr ein jähes Ende nahm. Von der Forstseite aus drangen plötzlich mehrere Rowdys in das Theater ein und handelten wie die Vandalen. Mit Äxten und Handwerkszeug von Zimmermannsleuten schlugen sie auf alle Ausstellungsgegenstände ein und richteten großen Schaden an. Selbst Dächer einzelner Häuser wurden abgedeckt. Im Augenblick des größten Tumults erschien Oberregisseur Frey im Theater. Auch er wurde sofort angegriffen. Als die Nachtwache eintraf, ergriffen die Täter die Flucht. Die Tegeler Oberförsterei wurde verständigt, die die Verfolgung der Täter einleitete. Ob sie gefasst wurden, ist nicht überliefert.
Trotz des Vorfalls konnte die Uraufführung am 29.5.1913 (unterschiedliche Angaben – auch das Datum 28.5. ist überliefert) erfolgen. Doch nicht alles klappte bei den folgenden Aufführungen. Allein ein Häuflein von 30 Statisten, das die „grande armée“ Napoleons verkörpern sollte, erschien doch in der Anzahl etwas wenig.
Der kostümierte Schauspieler, der in die Rolle des Napoleon geschlüpft war, hatte die Arme so verschränkt, dass es so erschien, als wolle er Napoleon eher karikieren. Doch die Volksstimmung wurde sehr lebendig, teils dramatisch gespielt. „Französische Soldaten“ begannen das Dorf zu plündern, ein 14-jähriger Junge erschoss daraufhin einen der Soldaten. Für diese Tat wollte Napoleon das ganze Dorf einäschern. Tatsächlich durfte dies natürlich nicht geschehen, denn die Kulisse wurde ja noch für die weiteren Bilder der Aufführung benötigt. Später trat ein alter Invalide auf, der noch unter dem Alten Fritz gedient hatte. Er drillte die Dorfjugend militärisch so, dass dies an die Regeln des Turnvaters Jahn erinnerte. Lützow´sche Jäger kamen hoch zu Ross seitlich vom Wald her. Der Schauspieler Holthaus stellte ausgezeichnet in liebenswerter und lauterer Derbheit den alten Blücher dar, während Schauspieler Lange als „schlenkriger, französelnder Dorfbarbier“ den Zuschauern vermutlich eine Weile in Erinnerung blieb.
Zum Ende der Vorstellung hin, als Napoleon die Szene beherrschte, verflachte das Stück wohl ein wenig. Doch insgesamt zeigte sich, dass der Oberregisseur die ja große Komparserie prächtig geschult hatte. Nur bei den Pferden war dies, wie ja schon oben angedeutet, nicht gelungen. Kurt Delbrück hatte sein Festspiel, so hieß es damals, so geschrieben, dass es mehr dramatische Szenen und weniger Pathos und Rührseligkeit als die anderen Werke dieses Genres enthielt.
Zum Schluss leuchtete die Abendsonne, der Bühne gegenüber untergehend, auf Waffen, Fahnen und historische Uniformen, während die Musikkapelle alte Choräle spielte. Die Besucher der Tegeler Freilichtbühne waren sich einig, ein vortrefflich aufgezogenes Theaterstück gesehen zu haben, und spendete laut und gern Beifall.
Die Aufführungsstätte sollte ursprünglich nur 14 Tage bestehen. Doch dann erfolgte eine Verlängerung bis einschließlich 17.8.1913. Danach wurden die Bänke wieder abgerissen, die Bühne geriet langsam in Vergessenheit. Wer sich heute in dem Waldstück umsieht, braucht schon viel Fantasie, um sich vorzustellen, was 1913 hier geschah. Glas- und Porzellanscherben auf dem Areal werfen die Frage auf, wie alt diese wohl sind.