Eine Tragödie am Tegeler See vor 120 Jahren
Vor 120 Jahren trieben Not und Elend eine Frau zu einer Verzweiflungstat, die mit einer erschütternden Tragödie endete.
Rückblickend war es eine glückliche Ehe, die die Lenglings führten. 1892 hatten sie gerade die neue Wohnung in Berlin N, Choriner Straße 22 bezogen. Nicht einmal kleine Wölkchen trübten das stille Glück der Familie, zu der die Söhne Max und Paul gehörten. Für den Unterhalt sorgte A. Lengling durch seine Arbeit als Bierfahrer. Das Einkommen hielt selbst kleine Alltagssorgen fern. Karoline Lengling kümmerte sich um den Haushalt und die Kinder.
Doch das Glück sollte nicht von Dauer sein. Beim Familienvater setzte eine lange andauernde, schleichende Krankheit ein, die schließlich dazu führte, dass A. Lengling seine Arbeit verlor. Opferbereit pflegte die Ehefrau den Mann. Die Familie logierte auch in der Tegeler Hauptstraße 18 b bei dem Gastwirt C. Pump in der Hoffnung, dass eine Genesung einsetzen würde. Damit wurde natürlich viel gespartes Geld aufgebraucht. Schließlich zerbrach das Glück der Familie völlig durch den Tod des Mannes und Vaters.
Frau Lengling war wenig geschäftskundig, sie hatte bisher keine Lohnarbeit verrichtet. Nun musste sie sehen, zunächst einen Beruf zu erlernen. Sie entschied sich für die Mäntelnäherei und absolvierte auch eine Lehrzeit, die aber den Rest des Ersparten völlig aufzehrte. Als die Witwe nach der Lehre daran denken konnte, Geld zu verdienen, griffen Kummer und Sorgen ihre Gesundheit an. Höchstens 8 oder 9 Mark in der Woche erreichte Karoline Lengling, zu wenig, um davon leben zu können. Meist war es noch weniger Geld, weil ihre Krankheit das Maschinennähen nicht zuließ.
Schließlich konnte die Familie nicht einmal mehr den Hunger stillen. Doch die Witwe war zu stolz, um anderen Leuten ihr Leid zu klagen. Indes entging den Nachbarn die Lage nicht. Waren einmal die beiden Jungen bei ihnen in der Wohnung, stürzten sich Max und Paul selbst auf leere Teller, die noch auf dem Tisch standen, und leckten diese ab. Die Nachbarn waren so gerührt, dass sie gelegentlich die für die eigenen Kinder vorgesehenen Mahlzeiten den halb verhungerten Nachbarskindern gaben.
Für die Mutter gab es nichts. Ihre Kräfte schwanden mehr und mehr. Sie sah sich nicht mehr in der Lage, für den Lebensunterhalt sorgen zu können, und fasste den Entschluss, gemeinsam mit den Kindern aus dem Leben zu scheiden. Am 7.11.1894 erzählte die Witwe den Nachbarn, sich einen Ruhetag gönnen und mit den Kindern nach Tegel gehen zu wollen. Sie würde den Restaurateur Pump besuchen, bei dem ja die ganze Familie im Sommerlogis gewohnt hatte.
Die Lenglings wanderten auch tatsächlich nach Tegel, ohne aber bei Pump einzukehren. Vielmehr gingen Mutter und Kinder bis zum Dampferanlegesteg. Hier sollte der ältere Sohn, der 7-jährige Max, eine unterwegs geleerte Flasche ausspülen. Als sich das Kind tief auf das Wasser beugte, gab ihm die Mutter einen Stoß, dass es hinabstürzte. Gleichzeitig ergriff die Mutter eine Hand des 5-jährigen Paul und sprang mit diesem in das kalte Wasser. Beide Kinder riefen laut um Hilfe. Die gellenden Rufe vernahm Gastwirt Pump. Er lief zusammen mit einem Gast sowie dem Stationsassistenten Krenig zum See. Die drei Männer konnten mit Stangen und Haken Frau Lengling und den Knaben Paul aus dem Wasser retten, während Max nicht entdeckt wurde. Seine Leiche wurde erst am Folgetag angeschwemmt.
Als Pump die halb erstarrte Frau als eine frühere Mieterin wieder erkannte, machte er ihr wegen der Tat Vorwürfe. Davon ließ er aber schnell ab, als die Frau erwiderte: „Ach Gott, hätten Sie mich doch sterben lassen! Ich kann nicht weiter leben!“ Der Gastwirt sorgte dafür, dass die Frau und das Kind trockene Kleidung bekamen. Zum Gemeindeamt gebracht, nahm sie der Gefängniswärter mitfühlend über Nacht in seiner Wohnung auf. Am Folgetag kam die unglückliche Frau dann in das Moabiter Untersuchungsgefängnis.
Frau Lengling wurde des versuchten und des vollendeten Mordes angeklagt. Sie gab die Tat zu und räumte auch ein, mit voller Überlegung gehandelt zu haben. Damit schien der Tatbestand des Mordes erfüllt zu sein. Die Geschworenen des Schwurgerichts des Königlichen Landgerichts II konnten eigentlich nur das „Schuldig“ aussprechen. Für einen vollendeten Mord sah das Gesetz die Todesstrafe vor.
Die Verhandlung vor dem Schwurgericht wurde auf den 14.3.1895, 10 Uhr, anberaumt. Das Interesse der Öffentlichkeit an dem Mordprozess war so groß, dass Eintrittskarten ausgegeben wurden. Der Prozess nahm dann einen Verlauf, der nicht zu erwarten war. Die Angeklagte gab an, dass sie nur sich selbst, nicht die Kinder töten wollte. Sie sei mit den Jungen nach Schönholz gefahren. Hier äußerten die Kinder die Bitte, den Gastwirt Pump in Tegel besuchen zu wollen. Sie sei mitgegangen, könne sich aber „der ganzen Sache“ nicht mehr erinnern. An diesem Tag, so Frau Lengling, habe sie auch nicht vorgehabt, sich das Leben zu nehmen. Heftige Kopfschmerzen hätte sie gehabt.
Nun bekundete eine Zeugin, die Angeklagte habe sich ihr gegenüber geäußert, sich das Leben nehmen und die Kinder nicht zurück lassen zu wollen. Die Zeugin nahm diese Worte nicht ernst. Sie meinte, dass solche Äußerungen ja oft ausgesprochen würden, ohne dass etwas geschah. Für das Gericht war damit die Behauptung der Angeklagten widerlegt, dass die Kinder nicht getötet werden sollten, vielmehr der Hauswirt sie annehmen würde.
Das Gericht stellte weiter fest, dass Frau Lengling oft an Kopfschmerzen litt und dass sie sich in einem jammervollen Ernährungszustand befand. Sie hatte zudem einmal das Rasiermesser ihres verstorbenen Mannes verbrannt aus Furcht, sich damit das Leben zu nehmen. Als sie sich bereits in Haft befand, schrieb sie ihrer Schwester einen konfusen Brief, der auch Grüße an den toten Mann enthielt. All diese Umstände führten Sachverständige zu der Annahme, dass die Angeklagte die Tat in einem Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit unter Ausschluss freier Willensbestimmung ausgeführt hatte. Ganz bestimmt wollten sich die Sachverständigen aber nicht festlegen. Sie stützten sich auf Vermutungen und Wahrscheinlichkeiten, die vor und nach der Tat zu beobachten waren. Staatsanwalt Barnau vertrat die Ansicht, dass die Angeklagte nicht im Zustand der Bewusstlosigkeit gehandelt hatte; Überlegung verneinte er aber. Er plädierte für „Schuldig wegen Totschlag unter mildernden Umständen“. Rechtsanwalt Wronker, der die Angeklagte vertrat, plädierte für eine Verneinung der Schuldfrage. In diesem Sinne gaben die Geschworenen ihren „Wahrspruch“ ab, worauf das Gericht auf Freisprechung erkannte.
Der weitere Lebensweg der Frau Lengling sowie der ihres Sohnes Paul ist nicht bekannt.