Weihnachten 1906 im Tegeler Gefängnis
Im Januar 1896 meldeten Berliner Zeitungen, dass im Entwurf für den Preußischen Staatshaushalt eine erste Rate in Höhe von 1 500 000 Mark für den Bau eines Gefängnisses in Tegel eingestellt wurde. Drei geplante Gefängnisbauten für je 500 Gefangene sowie eine Reservebaracke für 150 – 160 Gefangene sollten das Stadtvoigteigefängnis am Molkenmarkt und die Gefängnisse in der Perleberger Straße sowie in Rummelsburg ersetzen. Mit einer Fertigstellung bis zum Herbst 1898 wurde gerechnet. Im Juli 1896 begannen dann auf dem vom Fiskus erworbenen „kolossalen“ Gelände westlich der Tegeler Chaussee (heutige Seidelstraße) nahe dem Artillerieschießplatz und der Schwarzen Brücke nach dem Fällen des Kiefernbestandes die Ausschachtungsarbeiten. Baumaterialien wurden mittels einer Schmalspurbahn von den am Tegeler See ankernden Kähnen zur Baustelle gebracht.
Im August 1897 waren acht Beamtenwohnhäuser im Rohbau fertig. Von dem „Empfangshaus“ mit Büros und einer Kirche in der Mitte der Wohnhäuser war bereits das Erdgeschoss zu erkennen, während auf dem „Hinterland“ von drei Zellentrakten mit Nebengebäuden ein Gebäude bis zum Dach und die beiden anderen bis zum dritten Geschoss errichtet waren. Einige „Probezellen“, etwa 3 m lang, 2 ½ m breit und 4 m hoch mit einem 2 m über dem Fußboden liegenden Fenster konnten schon besichtigt werden.
Ab 1.10.1898 konnte das Gefängnis mit der Aufnahme von Gefangenen beginnen. Eine Unterbringung von bis zu 1620 Zellengefangenen sowie von bis zu 400 Gefangenen in den Barackengebäuden war möglich. In den drei Zellengebäuden hatten die Zellen unterschiedliche Bodengrößen von 6 – 10 qm, je nach Haftdauer. Für den Transport der Gefangenen vom Polizeipräsidium zum Gefängnis wurden anfangs eigens für diesen Zweck gebaute fensterlose, grün gestrichene Pferdestraßenbahnwagen eingesetzt. Die Strecke vom Molkenmarkt nach Tegel wurde mit einem festen Zeitplan befahren, wobei auch entlassene Strafgefangene wieder so nach Berlin gebracht wurden. Die Direktion der Straßenbahngesellschaft erhielt für die Benutzung der Straßenbahngleise eine geringe Entschädigung. Ab 1900 wurden die „Dicke Pauline“ genannten Straßenbahnanhänger durch Umstellung der Linie auf elektrischen Betrieb von einem Triebwagen der „Großen Berliner Straßenbahn“ befördert.
Blicken wir nun in das Jahr 1906, als im größten Gefängnis des Kontinents das Weihnachtsfest begangen wurde. Die Kirche, durch geänderte Bauplanung erst im August 1899 eingeweiht, hatte einen schlichten Altar, darüber eine kleine Orgel mit 12 Registern aus der Werkstatt von Dinse. Einfache Wandmalereien und treffende Bibelsprüche, die – so ein Zeitungsartikel anlässlich der Einweihung – auf Augen und Gemüt wohlthuend wirkten, schmückten das Innere. Die malerische Ausstattung erfolgte unter der Leitung des Kirchenmalers Krügermann (Schönebeck/Elbe) zum großen Teil durch Gefangene. 16 hohe Fenster mit farbiger Bleiverglasung gaben an hellen Tagen reichlich Licht. Beiderseits des Altars standen Weihnachten 1906 zwei hohe, schlanke Fichten. Weißes flimmerndes Licht der Weihnachtskerzen auf den Bäumen sowie die Beleuchtung durch die Gaskandelaber des Raumes fielen auf die bleichen Gesichter der Gottesdienstbesucher. 440 Sträflinge hatten sich eingefunden, in den terrassenartig angeordneten kleinen Zellen, die während des Gottesdienstes geschlossen wurden, Platz genommen. Das Blechschild mit seiner Nummer steckte jeder Häftling während des Gottesdienstes in die Rückwand des Platzes. Im Dunkel der Kastenzellen waren nur die Köpfe der Insassen zu sehen. Die hellblauen Sträflingsblusen tauchten erst auf, wenn sich ihre Träger mit den Worten des Anstaltsgeistlichen erhoben.
Der Prediger las aus der Bibel die Weihnachtsgeschichte vor, das Geläut der Weihnachtsglocken war zu hören, die altbekannten Weihnachtslieder wurden gesungen. In der zehnten Reihe des Raumes, fast in der Mitte, war ein charakteristischer grauer Kopf mit fahlem Antlitz und hohem blanken Schädel, der sich von den dunklen Köpfen seiner Nachbarn abzuheben schien. Es war Wilhelm Voigt, bis in die heutigen Tage besser bekannt als Hauptmann von Köpenick. Wenn Voigt den Kopf wendete, so wurde überliefert, blitzten seine Brillengläser. Doch nur selten und langsam bewegt sich in seinem fahlen Antlitz ein Muskel, die Augen in den tiefen Höhlen behielten meist ihren vorsichtigen, abwartenden Ausdruck. Der Geistliche von Rawitsch berichtete, dass der Schusterssohn aus Tilsit nie viel von Religion gehalten, vielmehr seine eigene Meinung von Gott und den Menschen hatte. Übrigens gingen bei der Anstaltsleitung für keinen soviel Weihnachtsgaben und -sendungen ein wie für Voigt. Doch das strenge Reglement der Anstalt ließ nicht zu, dass Voigt auch nur eine Gabe davon erhielt.
Während dessen predigte der Anstaltsgeistliche vom verlorenen Sohn und erwähnte ohne Salbung und Pathos auch die Angehörigen, die am Heiligen Abend 1906 den Gatten, Vater, Bruder oder Sohn schmerzlich unter dem Weihnachtsbaum vermissen würden. Unter einigen Zuhörern lebte eine rührende Bewegung auf, stilles Schluchzen schien hörbar, bärtige Männer in der ersten Reihe führten bunte Taschentücher zu den Augen, andere neigten den Kopf. Nur der alte Mann in der 10. Reihe, dessen Name alle Welt kannte, hatte weder Heim noch Familie. Er blätterte im Gesangbuch …
Nach dem letzten Lied griffen die Sträflinge ihre Blechmarken und verließen langsam die Zellen in der Kapelle. Einer löschte die Kerzen der Weihnachtsbäume. Aufseher zündeten die Gaslampen in den langen Fluren an. In den Zellen nahmen die Gefangenen ihr Abendbrot ein oder lasen. Immerhin gab es während der Festtage doppelte Lektüre und doppelte Rationen. Zudem konnte sich der Insasse für einen Teil seines Verdienstes das kaufen, was sein Herz begehrte – ausgenommen Spirituosen.
Plötzlich erbrauste vom Mittelpunkt des Flügelbaus aus ein vierstimmiger Chor. Die weihevollen Klänge von Beethovens „Hymne an die Nacht“ waren zu hören. Hier und da erscholl anschließend aus den Zellen kräftiger Applaus. Ein auf einer Kiste stehender freundlicher Gesanglehrer gab dann einer gut geschulten Sängerschaft in blauen Kitteln auf seiner Geige den Ton an, dem der Choral „Ehre sei Gott in der Höhe“ folgte. Abschließend ertönten dann noch die weichen Klänge „O du fröhliche“. Wohl jeder Insasse mag in seiner Zelle dem frommen Lied gelauscht haben.
Derweil dämmerte draußen eine milchige Winterlandschaft, während am Rande der Heide Lichter blitzten.
Wilhelm Voigt verbrachten auch die Weihnachtszeit 1907 noch im Tegeler Gefängnis. 1908 reichte er ein Gnadengesuch ein. Dadurch erfolgte auf Grund einer Kabinettsorder des Kaisers seine Freilassung am 16.8.1908 um 15.45 Uhr. Voigt fuhr nach dem Verlassen des Tegeler Gefängnisses mit der Straßenbahn in das Stadtinnere. Der Straßenbahnschaffner erkannte ihn sofort, so diskret sich der „Ex-Hauptmann“ auch verhielt.