Zwei verfeindete Barbiere

 

Wir blicken nach Tegel. 1890 lebten hier 2055 Personen, hinzu kamen 93 Bewohner des Schlosses. Einziger großer Arbeitgeber in der Nähe des Dorfes war die Schiff- und Maschinenbau-Act.-Ges. „Germania“, deren Arbeiter allerdings kaum in Tegel wohnten. Borsig hatte sein Werk noch nicht nach Tegel verlegt. Auch die Städtischen Gaswerke entstanden erst später. An schönen Sommer-Sonntagen kamen mit der Pferde- Straßenbahn viele Berliner hierher, um sich am Wasser und im Wald von sechs Tagen Arbeit in der Woche zu erholen. Sonst war es sicher noch eher ruhig auf den Straßen von Tegel. Mit der Dorfstraße (die in Hauptstraße und 1937 in Alt-Tegel umbenannt wurde), der Berliner Straße und der Schloßstraße sind bereits die um 1890 wichtigsten Straßen aufgezählt. Passanten, die sich begegneten, begrüßten sich vielleicht noch namentlich oder nickten sich zumindest freundlich zu, weil man wusste, dass es gleichfalls ein Einwohner des Dorfes war.

Kommen wir nun zur Straße Alt-Tegel, also den jetzigen unverwechselbaren Namen benutzend. Damals, im April 1890, hatten hier gleich zwei Barbiere ihre Läden. Die Hausnummern sind nicht überliefert. Doch beide müssen in Sichtweite voneinander tätig gewesen sein, indem sie „Kinn und Wangen der biederen Landbewohner vom Überfluss an Bartstoppeln säuberten“. Einer von ihnen war Wilhelm Bienasch. Eigentlich war er ein (Stuben-) Maler. Erst als ihn sein Schicksal nach Tegel führte, begann er, die edle Bartschneidekunst zu betreiben. Er galt am Ort als „Krone der Barbiere“, konnte sich gar einen Gesellen leisten.

Der andere Barbier hieß Heinrich Sturm. Er bewegte sich mehr „in den unteren Schichten“. Beide Barbiere wachten mit neidischen Blicken darauf, ob nicht einmal ein Kunde mehr den anderen aufsuchte. War dies der Fall, herrschte helle Verzweiflung.
Am 31.4.1890 (das Datum „31“ schrieb tatsächlich damals eine Zeitung) wollte sich Bienasch einen dauernden Sieg über seinen Konkurrenten sichern. Abends, es war bereits kurz vor 22 Uhr, begab er sich zum Haus und Geschäft von Sturm und rief mit lauter Stimme:

„Hier wohnt der Barbier, der gesagt hat, dass er nur Sozialdemokraten bedient!“

Den Ruf von Bienasch hatten einige Tegeler vernommen, aber auch derjenige, dem er galt. Die Stimme wurde gleich erkannt, weil Bienasch stets im höchsten Diskant (1) zu sprechen pflegte. Sturm beeilte sich, Bienasch anzuzeigen. Für die Tegeler Polizei bedeutete die Tat des „brotneidischen“ Barbiers ein schwerwiegendes Handeln. Wegen nächtlicher Ruhestörung diktierte sie dem „Konkurrenzschreier“ eine Woche Haft zu. Bienasch wollte den Strafbefehl nicht hinnehmen. Er beantragte eine richterliche Entscheidung. Er führte aus, dass durch seine „ruhige Bemerkung“ doch niemandes Ruhe gestört wurde. Außerdem könne vor 22 Uhr nicht von einer Nachtzeit die Rede sein. Das Gericht ging jedoch davon aus, dass der Ruf tatsächlich so laut war, dass die Ruhe in der Straße gestört wurde. Zudem stellte das Gericht fest, dass der Strafbefehl gemäß § 360 Absatz 11 des Strafgesetzbuches ausgestellt wurde. In diesem Paragraphen war nicht geregelt, dass eine Ruhestörung nur während der Nachtzeit begangen werden könne. Mithin würde es sich „ganz einfach um eine Ruhestörung handeln“, die hier vorlag.

Aber das Gericht hatte auch die Sache nicht so streng aufgefasst. Es hielt im Juni 1890 in seinem Urteil eine Geldstrafe von 3 Mark für ausreichend. Bienasch blieb vermutlich nicht lange in Tegel. Im Berliner Stadt-Adressbuch von 1898, in dem erstmals auch alle Einwohner von Tegel erfasst wurden, ist sein Name nicht aufgeführt. Hingegen wird Heinrich Sturm unter der Anschrift Berliner Straße 96 als Barbier und 1900 sowie für viele folgende Jahre als Friseur genannt.

Gerhard Völzmann

Haus des Barbiers

(1) Hohe, schrille Stimmlage.