Das Erkennen

Humoreske von H. Bandlow

Das Erkennen kann unter Umständen sich ganz anders gestalten als in dem bekannten Lied über den Wanderburschen mit dem Stab in der Hand oder in den Geschäftsbriefen der Kaufleute, die uns in liebenswürdigster Weise mit diesem oder jenen Betrag „erkennen“, erzählte Herr Schriftsteller Bergholz.

„Ich bin in Berlin einmal auf ganz merkwürdige Art erkannt worden. Meine Geschwister und ich hatten vor etwa dreißig Jahren einen Schiffspart geerbt – und zwar von einem entfernten Verwandten, der sich während seiner Lebenszeit niemals um uns gekümmert hatte. Es war außerordentlich gütig von ihm, unser im Testament zu gedenken; denn er stand bei uns immer im Geruche, ein Sonderling und ein riesiger Knicker zu sein. Es war allerdings ein Aber bei der Erbschaft. Zunächst war es nur ein Zweiunddreißigstel von einem Schooner, und ferner hatte das kleine Segelschiff schon seit Jahren Unterbilanz gehabt, da es ebenso wie die übrigen Segler der Konkurrenz der Dampfer nicht gewachsen war. Also war unser Part ein ganz werthloses Stück Papier, und meine Geschwister beschlossen in einem Anfall von Galgenhumor, den Part weiter zu verschenken – und zwar an den holländischen Vizekonsul Hennecke, dem sie sich aus irgend welchen Gründen erkenntlich zeigen wollten, und der der Inhaber der meisten Parte war.

Ich wohnte zu damaliger Zeit in Tegel, und die Geschwister schrieben an mich und drängten, dass ich doch meine notariell beglaubigte Einwilligung zu dieser Schenkung einsenden möchte, da ich ja Miterbe war.
Von Tegel nach Berlin gab es damals weder Pferdebahn noch elektrische Bahn, noch andere trojanische Pferde, und ich entschloß mich endlich, um keine Mahnbriefe wegen dieser Angelegenheit zu erhalten, ein Fuhrwerk nach Berlin zu nehmen, und erkundigte mich auch, wie man es bei so einer notariellen Beglaubigung anzustellen habe, Nun riethen mir alle ab, zum Notar zu gehen, da es direkt beim Gericht mit weniger oder gar keinen Kosten abzumachen sei.

Also verfügte ich mich zum Amtsgericht, suchte mir einen Gerichtsdiener auf und stellte ihm meine Sache vor.
„Ja, det jinge wohl“, sagte der wackere Mann, „aber da müssen Sie jemand haben, der Sie vor dem Amtsrichter als den und den erkennt!“

„So einen habe ich nicht bei der Hand“, erwiderte ich, „könnten sie mir nicht den Gefallen thun?“
„Ne“, gab er zur Antwort, „mit heißem Wasser bejieß ich mir nich gern. Uf den Kalmus piepe ich nich, da ist erst neulich eener häßlich mit rinjefallen; den hat das Gericht so an die Beene operirt, dass er ́ne Zeitlang sitzen mußte. Da müssen Sie sich nach eenen andern umsehen! Haben Sie denn keene Bekannten in Berlin?“ – Gegen seine tugendhafte Entrüstung war nicht anzukämpfen. Bekannte hatte ich wohl, nämlich einen Möbelhändler und meinen Schuster, und es blieb mir nichts weiter übrig als einen nach dem anderen aufzusuchen. Die meinten aber, es wäre unbillig von ihnen zu verlangen, dass sie sich in der besten Geschäftszeit wegen einer solchen Kleinigkeit einen halben Tag versäumten, und riethen mir, zum Notar Pilzl zu gehen, wo sich derartige Sachen glatt und geräuschlos abspielten. Ich sollte mich nur an die Bureauleute halten.

Also fragte ich mich nach dem gerühmten Rechtsanwalt und Notar hin und trat bald in ein feierliches, ehrfurchtgebietendes Gemach, dessen Fenster und Thüren durch kupferrothe Vorhänge abgesperrt waren, so dass es gegen Husten und Schnupfen völlig gesichert war.

Es fiel indessen hinreichend Licht auf die Tische mit mächtigen Tintenfässern, die ja das nothwendigste Zubehör zur Regierung der Welt sind, und denen eigentlich eine würdige Perücke aufgesetzt werden müßte.

Ich wandte mich an den Bureaumenschen, der mir am nächsten auf einem Sessel hockte und in einer Hose steckte, die weit genug für zwei war. Er gähnte inbrünstig, während ich eine verbindliche Verbeugung zustande und mein Anliegen vorbrachte. Ich that es so bescheiden, wie es überhaupt möglich war, und sagte: „Ich bin Ernst Bergholz aus Tegel. Verzeihen Sie, wenn ich Ihr keusches Ohr mit einem Anliegen verletzen sollte. Ich wurde von Freunden auf Ihre Firma als die leistungsfähigste verwiesen und möchte meine Einwilligung zu einer Schenkung von einem zweiunddreißigstel Schiffspart ausfertigen und meine Unterschrift beglaubigen lassen.“

„Haben Sie jemand mitgebracht, der Sie kennt?“ fragte der Bureaumensch trocken und sandig und ergriff eine Petschaft, mit dem er lebhaft spielte.
„Nein“, erwiderte ich. „Mir wurde gesagt, dass Sie selbst oder einer der Herren hier mich erkennen würden!“

„Das kann ich selbstverständlich nicht“, verletzte er in tiefem Baß und guckte auf die Flecken an seiner Weste nieder, mit denen er kleinen Kindern Schrecken einjagen konnte. „Kennen Sie vielleicht jemand von den Herren?“
Ich hatte sie mir alle schon angesehen; es waren lauter fremde Gesichter.

„Nein“, sagte ich bedeutend abgekühlt. Da mein Versuch, ihn zu einer Sünde zu verführen, mißlungen war, so wurde ich tugendhaft, wie es so im Leben zu gehen pflegt. „Nein“, fuhr ich fort, „ich kenne Sie nicht, und es ist ganz ausgeschlossen, dass mich jemand von den Herren rekognoszirt! Ich würde unter keinen Umständen meine Seele damit belasten, jemand zu unwahren Angaben verleitet zu haben! Ich empfehle mich Ihnen!“

„Warten Sie!“ sagte der Großsiegelbewahrer und drehte an seinem Schnurrbart, was ja stets ein Zeichen von festen Grundsätzen ist. „Gehen Sie doch einmal auf die Straße und rufen Sie einen Dienstmann! Dann wird es sich machen lassen; die Dienstmänner kenne ich alle!“

„Ich aber nicht“, rief ich, „ich kenne nicht einen einzigen!“
„Rufen Sie sich nur einen heran und reden Sie mit ihm!“ rieth er mir.
Ich trat also vor die Hausthür und traf an der Straßenecke auch wirklich einen Dienstmann, der einem Prellstein Gesellschaft leistete. Er trug nach damaliger Sitte noch einen salzkuchengroßen Orden auf der Brust.
„Sagen Sie, werther Herr“, redete ich ihn an, „kennen Sie mich vielleicht?“
„Wat soll ick Sie?“ fragte er kühl. – „Kennen soll ick Sie? Ne, dat ick nich wüßte. Dat is och nich nöthig!“
„Nun, dann nehmen sie meine Frage nicht übel“, versetzte ich, „ich suche jemand als Zeugen, der mich kennt. Ich werde Ihr Gewissen nicht damit beschweren, dass Sie wegen Beglaubigung einer Unterschrift bezeugen, mich zu kennen! Das wäre unrecht von mir! Es thut mir leid, dass Sie mich nicht kennen!“
„Wat? Ick sollt ́ Sie nich kennen? Natürlich kenn ́ ick Sie! – Sie sind doch der – Herrjes ́ wie heißen Sie doch noch?“
„Bergholz!“
„Richtig! der Bergholz aus die Behrenstraße wo Sie Kommis in det kleene Thrangeschäft sind!“
„Ich sehe, dass Sie mich doch nicht kennen, und ich müßte in der That keine Moral haben“ –
„Ja doch!“ fiel der Dienstmann ein, „Moral, die kenn ́ ick och! Moral is die Angst dafor, dass es ́rauskommt! Aber es kommt nich ́raus, und Sie können ja Ablaß zahlen – zwei Mark, dat is schon ́ne anständige Sünde werth! .. Wie heißen sie doch noch?“
„Ernst Bergholz!“
„Richtig, ick kann mir immer so schlecht uf Namen besinnen … sehen Se, man kommt mit so viele Leute zusammen! … Und wohnen thun Se?“
„In Tegel!“

„Tegel!“ wiederholte er mit geheimnisvollem Gemurmel, als wenn das ein Ort wäre, wo noch Kannibalen hausen. „Tegel, jawoll, det kenn ́ ick. Det is ja der Ort, wo die Mächens mit die engen Röcke wohnen; da wohnt och noch ́ne weitläufige Tante von mir, und da hab ́ ick früher och schonst öfters jeangelt … jawoll, Tegel kenn ́ ick … Also Ernst Holzberger aus Tegel!“

„Nein, Bergholz!“
„Ja natürlich, bei mir dreht es sich manchmal um! Nun sagen Sie, wat sind Sie denn, wenn ick fragen darf?“

„Schriftsteller!“
„Ach, du lieber Jott, nehmen Se ́t man nich übel! Wenn ick det hätte ahnen können, denn hätte ick Sie nich jefragt, Sie armer Mensch! Ick hab ́schon ́mal so eenen jekannt, der seine Poesie nicht halten konnte. Seh ́n Sie ́mal an, zwei Mark is det Verjnügen, det ick Sie kenne, schon werth! Denn wollen wir jleich rinjehen und den Büromenschen zeigen, wie jelehrte Hunde uf de Hinterbeine tanzen!“
Der Dienstmann hauchte erst noch einen Kuß auf die feuchten Lippen seiner Kümmelflasche, dann rückte er seinen gelben Salzkuchen auf der Brust zurecht und war damit zu der Expedition gerüstet.
Ich trat mit ihm wieder in das Bureau und nun vollzog sich die Sache glatt.
Ein Schreiber fertigte alles aus, und der Großsiegelbewahrer führte uns in das Allerheiligste, wo der Notar selbst regierte.
„Wer sind Sie?“ fragte er nachlässig.
„Ernst Bergholz, Schriftsteller aus Tegel.“
„Und Sie kennen den Herrn?“ fragte er den Dienstmann.

„Jawoll, det is der Herr Bergholz aus Tegel, wo die Mächens mit die engen Röcke wohnen, und wo meine weitläufige Tante wohnt, und in Herrn Bergholz seinem Hausflur hab ́ ick immer meine Anjelruthe hinjestellt, wenn ick dort anjelte!“
„Sie heißen?“

„August Puleke aus der Lilienstraße, Nummer 67, fünf Treppen links!“
„Nun müssen Sie“, fuhr der Rechtsanwalt zum Dienstmann fort, „aber auch jemand nachweisen, der Sie kennt. Ich kenne Sie ja beide nicht.“
„Der Herr Bürovorsteher kennt mir!“ sagte der Dienstmann mit unerschütterlicher Festigkeit und heiterer Natürlichkeit. „Mit dem hab ́ ick oft in Tegel jeangelt und wir beide haben och oft schon ́mal bei meiner weitläufigen Tante Kaffee jetrunken. Wir sind zwee alte jute Freunde.“
Der Bureauvorsteher nickte zustimmend; er war ebenso erkannt wie ich. Der Notar setzte seinen Namen unter die Schenkungsurkunde, und ich bezahlte zehn Mark dafür.
Im Bureau flüsterte ich dem Großsiegelbewahrer zu, er möge mir ein Briefkuvert überlassen. Er that es, und aus Dankbarkeit lud ich ihn ein, nach Schluß seiner Bureauzeit in den nahegelegenen „Schwarzen Adler“ zu kommen. Er nahm den Kalender zur Hand, warf einen Blick darauf und sagte:
„Das läßt sich machen! Heute ist gerade der Tag, an dem Samuel Hahnemann in Meißen geboren wurde. Wir können so eine Art Geburtstagsfeier veranstalten!“
„Wer ist Hahnemann?“ fragte ich.
„Weiß nicht; es steht nicht dabei; aber ich gehe nicht gern ohne Veranlassung zu einer Festlichkeit!“
Draußen erhielt Puleke zwei Mark. Er war sehr aufgeräumt und sagte:
„Empfehl ́ mich Ihnen, Herr Holzbecher. Wenn Se ́mal wieder wat jebrauchen, aben Se de Jüte, nich bei mir vorbeizujehen!“
Er trug noch das Schriftstück zur Poststation, und ich erholte mich im „Schwarzen Adler“ von meinen Erkennungsstrapazen.
Später kam noch der Bureaumensch zu mir und leistete mir Gesellschaft. Limonade haben wir nicht getrunken; wir tranken echtes Bier und stießen fleißig wieder und immer wieder an, als wenn wir besorgt wären, nüchtern zu werden, was Samuel Hahnemann aus Meißen nicht um uns verdient hatte. Dann ließ ich mich mit Extrapost nach Hause fahren. Alles in allem kostete mich die Erbschaft etwa fünfundzwanzig Mark. Das ist indessen Nebensache; ich wollte ja nur erzählen, dass es beim Erkennen zuweilen anders hergeht, als in dem alten Lied von dem Wanderburschen, Zöllner, Mägdlein und Mütterlein. Man kann sich auch für Geld erkennen lassen.

 

Anmerkung.

Der Artikel (ergänzt um eine Abbildung) wurde bis hin zur Rechtschreibung einer deutschsprachigen amerikanischen Zeitung aus dem Jahre 1912 entnommen. Wer ihn liest, kommt vielleicht zu dem Schluss, dass der Schriftsteller Heinrich Bandlow hier „dem Volk“ (sprich: dem Berliner) „aufs Maul geschaut“ und eine mit viel Humor gewürzte Geschichte nach einer wahren Begebenheit aufgeschrieben hat, die sich vor 1881 in der Kaiserstadt Berlin zutrug. Allerdings kann man Personennamen in der Humoreske, Sie werden es richtig geraten haben, nur vergeblich in Berliner Adressbüchern suchen. Vielmehr ist es ein für alle Werke Bandlows ganz typisches kleines abgeschlossenes Werk schriftstellerischer Freiheit, das nur zu gut in seine Kabinettstücke anschaulicher Darstellungen eingereiht werden kann. G.V.