In einem früheren heimatkundlichen Beitrag wurde bereits berichtet, dass die Deutsche Reichs-Postverwaltung 1873 in Tegel zur Freude und Erleichterung der Dorfbewohner eine Postanstalt eröffnete. Es war eine in der Schloßstraße gelegene Postexpedition. Später (1899) war die nun in der Berliner Straße befindliche Einrichtung bereits ein Postamt 2. Klasse, dass 1900 in die Bahnhofstraße (heutige Grußdorfstraße) umzog.
Das Jahr 1900 war für Postkunden insofern von Bedeutung, als am 1.4. ein „postalisches Groß-Berlin“ eingeführt wurde. Jetzt galten außer in Berlin auch für viele Ortschaften im Umfeld der Stadt ermäßigte Portosätze. Hiervon waren u. a. Reinickendorf-Ost und Reinickendorf-West betroffen, Tegel jedoch nicht. Begründet wurde dies mit einem zwischen Berlin und dem Vorort fehlenden baulichen Zusammenhang.
Zuvor hatten 1896 auf Tegeler Gebiet die Arbeiten für die Errichtung eines Gefängnisses begonnen, die zwei Jahre später mit der Aufnahme der ersten 90 Gefangenen weitgehend abgeschlossen waren. Für diese Haftanstalt, die wir ja heute als Justizvollzugsanstalt in der Seidelstraße kennen, gab es damals eine Besonderheit. Die Tegeler Chaussee, so noch der damalige Straßenname, gehörte nämlich postalisch zu Reinickendorf-West. Das galt somit für die Anstalt selbst wie auch für einen davor befindlichen Briefkasten. Auch die Bernauer Straße zählte zum Ortsbezirk Berlin. Doch warum ausgerechnet diese Straße? Die Erklärung ist, dass die Bernauer Straße einst auf dem Gelände des Schießplatzes lag, mithin dem Militärfiskus gehörte. Lange verhandelte die Gemeinde Tegel mit dem Fiskus zwecks Übernahme der Unterhaltspflicht der Straße. Ausbau und Pflasterung sollten 800000 Mark kosten. Der Fiskus war (November 1907) bereit, Tegel 100000 Mark Entschädigung zu zahlen, doch die Gemeinde bestand auf 120000 Mark. Im Folgejahr bot das Kriegsministerium „wegen der schlechten Finanzlage“ immerhin 105000 Mark an.
Doch zurück zu den Postkuriositäten, die uns Berichte aus den Jahren ab 1904 vermitteln. Der Briefkasten vor dem Gefängnis war „der beliebteste Kasten Tegels“. Hier eingeworfene Briefe wurden zur Ortstaxe von 5 Pfg. nach Berlin befördert. Hingegen erforderten Briefe, die in alle weiteren Tegeler Briefkästen eingeworfen wurden, das Fernporto von 10 Pfg. Die Firma Borsig ließ alle Briefe zum „Gefängnisbriefkasten“ bringen, ebenso das Tegeler Amtsbüro. Monatlich gingen nach Auskunft Tegeler Einwohner 3000 Briefe nur über diesen Briefkasten nach Berlin. Hinzu kamen noch jene Briefe, die direkt nach Berlin mitgenommen wurden. Umgekehrt wurde durch „freiwillige Angaben“ im Juni 1904 ermittelt, dass monatlich etwa 2000 Karten und Briefe in Tegel eingingen, die durch unzureichendes Porto mit Strafen von 10 bis 15 Pfg. belegt wurden.
Kommen wir nun zu besonderen Postkuriositäten. Das Städtische Gaswerk VI in Tegel wurde ab 1902 erbaut und 1905 in Betrieb genommen. Es hatte in der Bernauer Straße gleich im ersten Haus nahe Berliner Straße ein Baubüro. Briefe dorthin waren nach Ortstaxe zu berechnen. Der Fernsprecher hatte die Tegeler (!) Rufnummer 132. Nur wenige Schritte entfernt, auf dem Gelände der Gasanstalt gelegen, befand sich eine Baukantine. Sie raten richtig! Briefe an die Kantine erforderten Fernporto. In der Bernauer Straße lag auch das Wasserwerk der Gemeinde Reinickendorf.

Die Postkarte von Reinickendorf-Ost nach „Borsigwalde bei Tegel“ hätte 1902 5 Pf. Porto gekostet. Mit nur 2 Pf. frankiert, wurden 10 Pf. „Strafporto“ erhoben.
Wenn im Jahre 1904 die Ehefrau des dort wohnhaften und tätigen Heizers St. Hillar eine Postkarte aus Berlin erhielt, dann war diese mit (nur) 2 Pfg. frankiert und gerichtet an „Frau Hillar, Wasserwerk Reinickendorf, in Reinickendorf-West, Bernauer Straße“. Der Ankunftsstempel des Postamtes Reinickendorf (West) war damals noch üblich und trug zumeist das gleiche Tagesdatum wie der Aufgabestempel. In der Bernauer Straße befanden sich damals auch das „Restaurant zum Waldkater“ von Korla, die „Irrenanstalt“ von Thieme und nicht zuletzt das Städtische Wasserwerk. Für diese Anlieger galt ebenfalls das Berliner Ortsporto.
Borsigwalde gehörte 1904 postalisch (seit Gründung als Kolonie 1898) noch zu Tegel, war aber ein Teil der Gemeinde Dalldorf (Wittenau). Wollte man einen Brief von Borsigwalde nach Dalldorf verschicken, dann ging dieser erst nach Tegel, von dort nach Berlin und schließlich über die Nordbahn nach Dalldorf. Das dauerte zum Teil 24 Stunden für eine Strecke, die man in 20 – 25 Minuten zu Fuß zurücklegte. Das Briefporto betrug 10 Pfg. Schon 1901 hatten sich Einwohner von Dalldorf über postalische Missstände beklagt und statt der Postagentur die Errichtung eines Postamtes und die Einführung der Ortstaxe gefordert. Doch es änderte sich zunächst nichts.
Am 23.4.1905 beschäftigte sich noch einmal eine Berliner Zeitung mit dem von und für Tegel geforderten postalischen Nachbarortsverkehr. Das Tegeler Postamt hatte hierzu im Dezember 1904 die folgenden ganz konkrete Zahlen erhoben:
Blicken wir zwischendurch auch auf den Telefonverkehr der damaligen Zeit. Es war kurios, dass die öffentliche Fernsprechstelle in Reinickendorf (West) bis August 1904 zum Ortsbereich von Tegel gehörte. Erst danach wurde sie in den Ortsbereich von Reinickendorf (Ost) einbezogen. Der Sprechbereich und die Gebührensätze waren jetzt dieselben wie für Reinickendorf (Ost).
Am 1.4.1905 gab es in Tegel 292 Telefonanschlüsse und 56 Privatnebenanschlüsse. Tierarzt Ewald Post aus der Schloßstraße 25 hatte natürlich einen Telefonanschluss. „Telephon-Nervosität“ war für ihn der Grund, am 24.10.1905 eine Beschwerdeschrift über eine Telefonistin an das Tegeler Postamt zu richten. Am Vortag verlangte er nämlich eine Verbindung mit einer Berliner Telefonnummer. Erst wurde er falsch verbunden, dann dauerte es mehrere Minuten bis zur richtigen Vermittlung. Post war der Meinung, dass er absichtlich falsch verbunden wurde. Zudem, so der Tierarzt, hätte die Telefonistin während des Sprechens mit ihm auch noch gelacht. Die Beschwerdeschrift schloss mit der Bemerkung: „Er sei nicht gesonnen, sich durch Albernheiten des weiblichen Telegraphenpersonals chikanieren zu lassen.“
Es folgte ein Gerichtsverfahren wegen Beamtenbeleidigung. Das Schöffengericht verurteilte Post zu einer Geldstrafen von 20 Mark. Post legte gegen das Urteil Berufung ein und wurde nun freigesprochen. „Da dem Angeklagten geglaubt worden, daß er von der Wahrheit seiner Wahrnehmungen vollständig überzeugt gewesen, so habe er auch von Albernheit sprechen können, ohne die Grenzen des § 193 zu überschreiten. Junge Damen, auch wenn sie im Postdienste beschäftigt seien, lachen doch bekanntlich gern und würden leichter nervös als Männer, und wenn der Angeklagte dieser Erfahrung entsprechend das Wort ´Albernheit` anwandte, so sei daraus nicht die Absicht der Beleidigung zu schließen.“ So die Begründung des Gerichts im Berufungsverfahren.
1907 wurde der Telefonverkehr nach den nördlichen Vororten Berlins als mangelhaft bezeichnet. So war das Tegeler Amt so sehr überlastet, „daß es geradezu ein Zufall ist, wenn man auf den ersten Anruf Anschluß erhält… Hier (u. a. in Tegel) sind so wenig Leitungen vorhanden, daß die Telephon-Beamtinnen, wenn der Anrufer schließlich eine Viertelstunde vergeblich versucht hat, von Reinickendorf nach Tegel Verbindung zu bekommen, aus Mitleid den Anschluß über das Amt 1 Berlin herstellen.“
Kommen wir nun wieder zum Ortsporto zurück. Mehrfach war dies für die Tegeler Gemeindevertreter ein Tagesordnungspunkt ihrer Versammlungen. So im Juni 1906, nachdem die Postbehörde die Einbeziehung des Ortes in die Berliner Ortstaxe ablehnte. Das Gefängnis und die gesamte Bernauer Straße gehörten zum Ortsbereich, wie ja schon weiter oben berichtet, das Städtische Gaswerk hingegen nicht. Wer konnte das verstehen?
In der Gemeindevertretersitzung im Februar 1907 wurde bekannt, dass sich die Firma Borsig auf Veranlassung der Potsdamer Handelskammer bereiterklärt hatte, die Gemeinde Tegel bei der Bemühung zur Einführung der Ortstaxe zu unterstützen. Die Post hatte nach der letzten Tegeler Eingabe geantwortet, dass „auch nach nochmaliger Prüfung die Einführung nicht möglich sei“. Das Gefängnis, die Bernauer Straße und (nun immerhin auch!) die Berliner Gasanstalt seien „weit abliegende Ausbauten“. Dabei lagen doch die „Ausbauten“ näher an Tegel als an Reinickendorf. Eine neue Eingabe Tegels war vorgesehen mit dem Hinweis, dass Befürchtungen eines Umsatzrückganges nicht stichhaltig seien. Schließlich brachten ja jetzt schon fast alle Industriellen und die Gemeinde alle Briefe zum „Gefängnisbriefkasten“. Gemeindevertreter Borsig bat gar, in Zukunft den Empfang aller falsch frankierten Briefe abzulehnen, also kein Strafporto zu bezahlen.
Am 13.8.1907 waren die Tegeler Postkuriosa erneut ein Thema der Gemeindevertreterversammlung. Die Oberpostdirektion Berlin hatte eine Petition der Gemeinde Tegel abgelehnt, eine solche der Gemeindevertreter beim Staatssekretär war noch unbeantwortet. Doch auch sie ließ keinen Erfolg vermuten. Die Postbehörde wurde zu einer Lokalbesichtigung eingeladen.
Derweil war es weiter Tatsache, dass sich in Tegel die Briefboten der Postämter von Reinickendorf-West und Tegel auf ihren Wegen begegneten. Der aus Reinickendorf-West versorgte seinen oben genannten Bereich mit Post, wobei nun auch als besonderer Bestellbezirk die neuen Fabriken auf Borsigwalde-Wittenauer Gebiet gehörten. Jener aus Tegel hatte die Bewohner und Firmen des ganzen weiteren Tegel-Areals zu bedienen. Es kam aber auch vor, dass Briefe erst nach Tegel geschickt wurden, von dort aus über das Briefpostamt in Berlin (Königstraße) geleitet wurden und dann vom Postamt 39 nach Tegel (Bezirk Reinickendorf-West!) gelangten. Endlich, im Dezember 1910, meldeten dann verschiedene Zeitungen, dass zum 1.1. kommenden Jahres der Nachbarortsverkehr von Groß-Berlin voraussichtlich wieder eine Erweiterung erfahren würde.
So wurden u. a. die Vororte Tegel, Wittenau und Borsigwalde genannt. Briefe von Berlin dorthin und umgekehrt würden dann nur noch einem Porto von 5 Pfg. unterliegen. Tatsächlich wurde ab 1.1.1911 die Ortsbrieftaxe von Groß-Berlin u. a. auf die zuvor genannten Ortsteile ausgedehnt. Der „Gefängnisbriefkasten“ verlor damit seine Bedeutung. In der Auflistung der Tegeler Briefkästen (siehe oben) ist er nicht mit angegeben, weil er ja zum Postamt Reinickendorf-West gehörte.
Blicken wir nun noch in das Jahr 1913. Am 30.12. berichtete eine Zeitung über „Postalische Willkür. Ein Notschrei aus dem Norden“. Es betraf die Nachbarortstaxe und hier insbesondere Hermsdorf und Waidmannslust. Die Einwohner dieser Ortsteile ärgerten sich über Briefe, die mit einer blauen 15 oder 25 „verziert“ waren, der Briefträger also Nachporto erhob. Ein Brief bis zu 250 g kostete im Nachbarortsverkehr 5 Pfg. Porto. Doch die genannten Orte gehörten nicht zur Berliner Nachbarortsgemeinschaft, den baulichen Zusammenhang mit Berlin sah die Postbehörde nicht. Kurios war hingegen, dass Hermsdorf für ein Gespräch mit (nur) 10 Pfg. Kosten telefonisch zum Nachbarortsverkehr gezählt wurde, weil die Vermittlung durch das Amt in Tegel erfolgte.Die Kolonie „Freie Scholle“ gehörte kommunal zu Tegel, jedoch anfangs postalisch zu Waidmannslust. Als Tegel 1911 die Nachbarortstaxe bekam, bemühten sich die „Schollaner“ (erfolgreich) um eine postalische Einverleibung nach Tegel. Ein Brief bis 250 g nach Berlin konnte jetzt mit einer Briefmarke von nur 5 Pfg. frankiert werden. Ein Brief bis 20 g, in einen nur wenige hundert Meter entfernten Waidmannsluster Briefkasten eingeworfen, kostete 10 Pfg. Wog er 21 g, mussten gar 20 Pfg. bezahlt werden.
Als „schrankenlose Willkür“, so die Zeitung, beleuchtete sie zudem „einen besonders krassen Fall“. Damit war Tegelort gemeint. Einen baulichen Zusammenhang mit Tegel oder gar Berlin gab es hier ohne Zweifel nicht. Trotzdem galt hier die Nachbarortstaxe, „nur weil die Tegeler Briefträger zweimal täglich den Genuss haben, mit den Postsachen nach Tegelort und zurück zu pilgern.“
Soweit unser Rückblick in eine Zeit vor über 100 Jahren mit jenen postalischen Problemen, die die Einwohnerschaft von Tegel und Umgebung bewegten.