In ganz Deutschland wurden im Jahre 1913 Feierlichkeiten zur Erinnerung an die Befreiungskriege gegen Napoleon I. vor 100 Jahren durchgeführt. Beispielsweise fand mit 2000 Mitwirkenden in der gerade fertiggestellten Festspielhalle (Jahrhunderthalle) in Breslau das „Festspiel in deutschen Reimen“ anlässlich der Jahrhundertfeier der Freiheitskriege statt, das von Gerhard Hauptmann verfasst und von Professor Max Reinhardt inszeniert wurde. Zur Premiere am 31.5.1913 wurde sogar in Berlin um 1014 Uhr ein Sonderzug eingesetzt. Die Eintrittspreise bewegten sich zwischen 250 und 11 Mark. Den offiziellen Kartenverkauf hatte das Kaufhaus Hermann Tietz in der Leipziger Straße und am Alexanderplatz übernommen.
Protektor der Veranstaltung war Prinz Wilhelm. Er äußerte sich allerdings negativ über das Werk. Ohnehin gab es von Anfang an viel Widerstand, weil Napoleon verherrlichend dargestellt wurde. Die Aufführungen wurden dadurch vorzeitig eingestellt.
Doch Berliner und Bewohner der Umgebung der Kaiserstadt mussten nicht nach Breslau fahren, wenn sie sich ein „vaterländisches Theaterstück“ ansehen wollten, das sich mit dem Thema „Freiheitskampf anno 13“ beschäftigte. In Tegel wurde nämlich eine Freilichtbühne errichtet, die den Besuchern Festspiele mit dem Titel „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los“ bot. Es war sogar, wenn man so will, eine „Bühne mit Gleisanschluss“, denn am 28.5.1913 wurde auch die Straßenbahn der Gemeinde Heiligensee eingeweiht, die zwischen Tegel und Heiligensee bzw. Tegelort verkehrte. Am 29.5. nahm sie ihren normalen Fahrbetrieb auf. Nachfolgend wollen wir das Freilichttheater und die Aufführungen näher betrachten.
Es waren Einwohner von Tegel, unter ihnen der damalige Gemeinde-Obersekretär Paul Zwiebel, die mit großem Interesse den Plan verfolgten, im Ort ein vaterländisches Theaterstück aufführen zu lassen, in dessen Mittelpunkt Theodor Körner und seine Jäger stehen sollten. Schließlich hatten auch die Bauern des kleinen märkischen Dorfes Tegel unter den Soldaten Napoleons zu leiden. Zwiebel und weitere Tegeler setzten sich mit Schauspielern in Verbindung, die im Tegeler Vereinshaus auftraten. Schnell wurden sich alle Beteiligten einig. Der Tegeler Schlossherr stellte für die Ausführung des Planes an der von Tegel aus gesehen rechten Seite der Karolinenstraße ein Gelände zwischen dem Fließ und dem Weg nach Hermsdorf zur Verfügung. Bauunternehmer Müller stellte in kurzer Zeit an einer Lichtung, deren sanfte Abhänge die Anlage wie ein richtiges Amphitheater erschienen ließen, lange Bankreihen mit Sitzplätzen für 1500 Besucher auf. Im „Tal“, das die Naturbühne bildete, errichte Müller vier (lt. Plan 3) hölzerne Bauernhäuschen und einen Brunnen. Damit war ein Marktplatz entstanden. Das Dorf, von mächtigen Eichen umstanden, sollte man sich in der Nähe von Leipzig gelegen vorstellen. Mit zwei Kassen, Buden für Kaffee- und Bierausschank, WC-Anlagen und natürlich einer hölzernen Direktionsbude vervollständigte Müller die Aufbauten für das Freilichttheater.
Künstlerischer Leiter der Bühne wurde Oberregisseur Heinrich Frey aus Berlin. Er hatte bereits 1912 die Spiele auf dem Pichelswerder geleitet. Zuvor wurde das von Delbrück geschriebene Stück schon in Sangershausen, Wiesbaden und anderen Orten mit großem Erfolg aufgeführt. 200 Personen traten in dem Stück auf. Neben Schauspielern standen auch Humboldtschüler und ältere Tegeler als Komparsen auf der Bühne. Die Vorstellungen fanden dienstags, donnerstags und sonntags jeweils um 1630 Uhr statt; Sondervorstellungen waren möglich. Die Eintrittspreise waren mäßig, wie die Zeitungsanzeige vom 28.5.1913 zeigte. Vereine und Schulen erhielten zudem besondere Vergünstigungen. Der Ertrag der Veranstaltungen war für Kriegsveteranen bestimmt. Bereits 1912 hatte Kurt Delbrück das Textbuch für das Volksschauspiel zur Jahrhundertfeier in 5 Akten unter dem Titel „Das Volk steht auf“ geschrieben und im Verlag von G. Danner, Mühlhausen/Thüringen, veröffentlicht. Dabei hatte er bewusst die Vorgänge der Kriegsjahre nicht in ein geschlossenes Drama gezwängt. Vielmehr waren es einzelne der unzähligen Geschehnisse, die sich in Dörfern, Familien, Schlössern und Kanzleien zutrugen und vom Autor aufgegriffen wurden, um in Bildern, Episoden und Skizzen die Verzweiflung und die Wut der Menschen jener Zeit widerzuspiegeln.
Am Nachmittag des 25.5.1913 fand im neuen Freilichttheater zu Tegel eine Kostümprobe statt, die gegen 17 Uhr ein jähes Ende nahm. Von der Forstseite aus drangen plötzlich mehrere Rowdys in das Theater ein und handelten wie die Vandalen. Mit Äxten und Handwerkszeug von Zimmermannsleuten schlugen sie auf alle Ausstellungsgegenstände ein und richteten großen Schaden an. Selbst Dächer einzelner Häuser wurden abgedeckt. Im Augenblick des größten Tumults erschien Oberregisseur Frey im Theater. Auch er wurde sofort angegriffen. Als die Nachtwache eintraf, ergriffen die Täter die Flucht. Die Tegeler Oberförsterei wurde verständigt, die die Verfolgung der Täter einleitete. Ob sie gefasst wurden, ist nicht überliefert.
Trotz des Vorfalls konnte die Uraufführung am 29.5.1913 (unterschiedliche Angaben – auch das Datum 28.5. ist überliefert) erfolgen. Doch nicht alles klappte bei den folgenden Aufführungen. Allein ein Häuflein von 30 Statisten, das die „grande armée“ Napoleons verkörpern sollte, erschien doch in der Anzahl etwas wenig.
Der kostümierte Schauspieler, der in die Rolle des Napoleon geschlüpft war, hatte die Arme so verschränkt, dass es so erschien, als wolle er Napoleon eher karikieren. Doch die Volksstimmung wurde sehr lebendig, teils dramatisch gespielt. „Französische Soldaten“ begannen das Dorf zu plündern, ein 14-jähriger Junge erschoss daraufhin einen der Soldaten. Für diese Tat wollte Napoleon das ganze Dorf einäschern. Tatsächlich durfte dies natürlich nicht geschehen, denn die Kulisse wurde ja noch für die weiteren Bilder der Aufführung benötigt. Später trat ein alter Invalide auf, der noch unter dem Alten Fritz gedient hatte. Er drillte die Dorfjugend militärisch so, dass dies an die Regeln des Turnvaters Jahn erinnerte. Lützow´sche Jäger kamen hoch zu Ross seitlich vom Wald her. Der Schauspieler Holthaus stellte ausgezeichnet in liebenswerter und lauterer Derbheit den alten Blücher dar, während Schauspieler Lange als „schlenkriger, französelnder Dorfbarbier“ den Zuschauern vermutlich eine Weile in Erinnerung blieb.
Zum Ende der Vorstellung hin, als Napoleon die Szene beherrschte, verflachte das Stück wohl ein wenig. Doch insgesamt zeigte sich, dass der Oberregisseur die ja große Komparserie prächtig geschult hatte. Nur bei den Pferden war dies, wie ja schon oben angedeutet, nicht gelungen. Kurt Delbrück hatte sein Festspiel, so hieß es damals, so geschrieben, dass es mehr dramatische Szenen und weniger Pathos und Rührseligkeit als die anderen Werke dieses Genres enthielt.
Zum Schluss leuchtete die Abendsonne, der Bühne gegenüber untergehend, auf Waffen, Fahnen und historische Uniformen, während die Musikkapelle alte Choräle spielte. Die Besucher der Tegeler Freilichtbühne waren sich einig, ein vortrefflich aufgezogenes Theaterstück gesehen zu haben, und spendete laut und gern Beifall.
Die Aufführungsstätte sollte ursprünglich nur 14 Tage bestehen. Doch dann erfolgte eine Verlängerung bis einschließlich 17.8.1913. Danach wurden die Bänke wieder abgerissen, die Bühne geriet langsam in Vergessenheit. Wer sich heute in dem Waldstück umsieht, braucht schon viel Fantasie, um sich vorzustellen, was 1913 hier geschah. Glas- und Porzellanscherben auf dem Areal werfen die Frage auf, wie alt diese wohl sind.
Berlin war gegen die Siebziger Jahre des vorletzten Jahrhunderts hin noch ganz die kleine preußische Residenz, wie sie uns die Schriftsteller der dreißiger Jahre geschildert haben. Die kleinen einstöckigen Häuschen in den Nebenstraßen der Friedrichstraße, sogar in der Nähe der „Linden“, die Kellerhälse, die hohen Pumpen – Plumpen nannte sie der Berliner -, die Marktstände und anderes waren noch ganz so wie damals erhalten. Die Stadt hatte die Schwelle zu ihrer Großstadtherrlichkeit noch nicht überschritten. Und so hatte auch die Bevölkerung sich noch das Gepräge der dreißiger Jahre erhalten, ihrer besten Zeit seit Bestehen Berlins, wo man zum ersten Male von einem einheitlichen Gesicht, einem bestimmten berlinischen Zuge und einem “leisen Bürgerbehagen“ hatte sprechen können. Ueber dem Ganzen lag noch jener familiäre Zug der Kleinstadt.
So wird man es verstehen können, wenn ich erzähle, dass der Beginn des Weihnachtsmarktes ganz Berlin in Aufregung versetzte. „Am Zehnten werden die Buden aufgebaut“, lautete das geflügelte Wort, sobald der Dezember gekommen war, in allen Familien, und es gab, sobald der Weihnachtsmarkt begonnen hatte, keinen Kreis von Familien oder Freunden, in dem nicht wenigstens eine Partei so lange getrieben hätte, bis man gemeinsam in großer Gesellschaft zum Besuche des Weihnachtsmarktes auszog.
Gleichzeitig mit dem Markte verkündeten die Weihnachtsbäume und die „Pyramiden“ den Beginn der Weihnachtsherrlichkeit. Die Pyramiden, im Volksmunde allgemein „Perhamiden“ geheißen, überwogen. Sie bestanden aus vier mit Tannenreisig – „Tanger“ hübsch vom Volke genannt – umkleideten Stangen, die oben an der Spitze einen Bausch von Tannenreisig, am Fuße einen Boden mit kleiner Galerie trugen. Dort hockten im heimlichen Tannengrün versteckt kleine weiße Schäfchen, aus Gips oder Watte hergestellt, Die Pyramide war noch mit bunten Tapetenbändern und Quasten von Rauschgold oder Goldschaum geschmückt. An den vier Ecken trug sie übereinander je drei bis vier Leuchter, im ganzen gewöhnlich zwölf bis sechzehn Lichter, und wenn sie in ihrer leuchtenden Pracht auf dem Weihnachtstische inmitten aller Herrlichkeiten stand, erschien sie uns Jungen besonders eindrucksvoll. Kleine Spenden von Pfefferkuchen waren geeignet, die Vorfreude des Festes wachzuerhalten. Sie stifteten ungleich mehr Freude als heute, wo jedes zehnte Haus fast ein Konfitürengeschäft enthält und diese Leckereien „gang und gäbe“ sind.
Das damals volkstümliche Weihnachtsgebäck ist heute zum Teil gänzlich verschwunden. Da gab es unter anderem „Mehltuten“, aus denen man sich scherzweisee gegenseitig Mehl ins Gesicht blies: aus bemehltem Pfefferkuchenteig gewickelte Röhren, gegen 20 Zentimeter lang, etwas über zwei Finger dick, kleine Würfel, ungefähr von Fingerdicke, allerlei Menschen- und Tierfiguren aus flachem Teig, runde Plätzchen, braun und hell. Die zartere Gattung führte einen seltsamen, aber allgemein verbreiteten Namen, den man auch heute noch manchmal für kleine Suppenmakronen gebraucht und der mit „Nonne“ zusammenhängt.
Und nun der Weihnachtsmarkt, das Dorado des Vergnügens und Ulkes für alle Stände. Er begann in der Gertraudtenstraße an der Petrikirche, zog sich durch die Breite Straße in mehreren Reihen vom Köllnischen Fischmarkt bis zum Schloß, auf dem Schloßplatze vom Roten Schloß bis zur Kurfürstenbrücke, im Lustgarten von der Schloßbrücke bis zur Kurfürstenbrücke, endlich durch die Schloßfreiheit zwischen dem Schloß und den Häusern hindurch, die anstelle des heutigen Kaiser-Wilhelm-Denkmals standen. Also um das alte Schloß herum, das gerade gut genug war, all dem Lichterglanz, Lärm und Jubel als Folie zu dienen. Durch die langen Budenstraßen hindurch, wo Bude an Bude, Licht an Licht stand, fluteten in dichtem Gewimmel Herren, Damen, Männer, Frauen und Kinder mit Hampelmännern in den Knopflöchern, blasend, Knarren und „Waldteufel“ schwingend, sich gegenseitig mit Gumminasen, Springteufeln und allerlei Scherzartikeln neckend. Rufen und Gelächter an allen Ecken und Enden. Man war wie toll. In den heiteren Lärm hinein drang der stereotype, schmetternde Aufruf aus den Buden “Grrroschen das Stück“, „Stück“ scharf betont, von der Straßenschwelle her von Kindern gerufen: „Einen Dreier det Schäfken“. Ein primitives Spielzeug, ein hölzerner Vogel, bei dem Kopf und Schwanz durch eine Feder mit daranhängender Kugel beweglich waren, wurde überall mit dem Rufe „vorn pickt er, hinten nickt er“ angepriesen.
Die Krone all der Weihnachtsgenüsse, das Paradies für uns Jungen, aber boten die Schmalzkuchenbuden. Der eigenartige Duft, der von dem siedenden Fett, mit der frischen Winterluft gemischt, über den Markt strich, der Schmalzkuchenduft, der erzeugte eigentlich erst den richtigen Weihnachtsrausch. Keiner, der je ohne Schmalzkuchen vom Weihnachtsmarkte gegangen wäre. Es gab mehrere dieser weißen Buden, in deren lichterstrahlendem Innern hellgekleidete Mädchen mit fabelhafter Schnelligkeit die Tüten füllten, den Zuckerstreuer schwangen und sie – jede Tüte einen Groschen – über die fröhliche Menge, die in vier Reihen die Bude belagerte, hinwegreichte. Keiner fragte nach den Zutaten des Gebäckes. Hier schmeckte es wie Götterspeise, die Erinnerung daran währte das ganze Jahr hindurch.
Solcher Art waren die Weihnachtsfreuden in Berlin vor fünfzig Jahren. Die Mittel klein, die Freude groß und ursprünglich. Selige Zeiten für den, der mit seiner Kindheit sich an sie zurückerinnert. Oscar Bolle.
Anmerkungen.
Der von dem Schriftsteller und Fotografen Hermann Oscar Bolle (1856 – 1929) über die Berliner Weihnacht verfasste Artikel wurde 1921 in einer Berliner Tageszeitung abgedruckt. Mit den „Erinnerungen aus der Kinderzeit eines alten Berliners“ meinte er sicher seine eigene Vergangenheit. Der Artikel wurde bis hin zur damaligen Rechtschreibung unverändert übernommen. Allerdings wurde in der Überschrift die damals zutreffende Angabe von 50 Jahren auf nunmehr 150 Jahre geändert, um nicht zu irritieren. Auch die Abbildungen waren in der Originalfassung nicht enthalten. Sie wurden aus anderen Quellen eingefügt.
Doch wer war Oscar Bolle? Ein Lebenslauf des Mannes ließ sich nicht ermitteln. Auch ein Personenfoto konnte nicht ausfindig gemacht werden. So ist nicht bekannt, wo (sicher in Berlin) Bolle geboren wurde, welche Schule er besuchte und welche berufliche Tätigkeit er zunächst ausübte. Die Spurensuche wurde erst von 1887 an erfolgreich. Bolle war zu dieser Zeit Kaufmann und erwarb am 4.10. durch Eintragung beim Berliner Königlichen Amtsgericht I das Handelsgeschäft C. A. Federhart Nachfolger, Inhaber Siegfried Zielinsky. In der 1865 gegründeten Fabrik mit Sitz in Berlin S, Alte Jacobstr. 70, wurden Luxus-Kartonagen und Bonbonnieren hergestellt, Spezialitäten waren Neuheiten in Fantasie- und Galanterie-Artikeln, auch ein Atelier für Attrappen und Theater-Requisiten war vorhanden. Es wurde zudem exportiert. Bolle, in Berlin SO, Michaelkirchstraße 31 wohnhaft, war mithin nicht unvermögend. Bereits ein Jahr später, am 20.9.1888, trat der Kaufmann Noddy Alfred Franck in Bolles Handelsgeschäft als Gesellschafter ein. Für die nun entstandene offene Handelsgesellschaft (OHG) war nur Bolle vertretungsberechtigt. Die Fabrikation von Neuheiten für Confiserie, Parfümerie, Galanterie, Luxus-Kartonagen, Bonbonnieren und Fantasie-Artikeln blieb am bisherigen Standort ähnlich, auch der Export. Dies ist bis 1891 belegt, während sich in den Folgejahren Bolles berufliche Aktivitäten nicht eindeutig klären lassen.
Am 3.8.1897 trat Kaufmann Bolle, in Berlin W, Winterfeldtstraße 30 a wohnhaft, als Gesellschafter in das Handelsgeschäft des Verlagsbuchhändlers Carl Franz Regenhardt ein. Bei der Firma in Berlin W, Kurfürstenstraße 37, handelte es sich auch um eine Druckerei. Als im Sommer 1900 Regenhardt verstarb, wurde die OHG aufgelöst, Bolle schied aus der Firma nach der Liquidation und einem rechtsgültigen Vergleich aus.
In der Folgezeit arbeitete Bolle, jetzt wohnhaft in Wilmersdorf, Berliner Straße 23, in der Buchhandlung für Architektur und Kunstgewerbe in Berlin SW, Anhaltstraße 16/17, deren Inhaber (ausschließlich) Bruno Hessling war. Allerdings besaß Bolle hier Prokura, die wohl im Zusammenhang mit seinem Ausscheiden aus der Firma am 28.11.1904 erlosch.
Für Oscar Bolle begann nun offenbar mit der Aufgabe seiner bisherigen beruflichen Tätigkeit ein neuer Lebensabschnitt. Bis zu seinem Lebensende gab er jetzt für seine Person als Beruf stets „Schriftsteller“ an. Einzig im Jahre 1914 bezeichnete er sich – wohl nicht ganz unbescheiden – als „Privat-Gelehrter“. Bolle machte sich unzählige Male auf, die märkische Landschaft zu entdecken. Ob Kiefernwälder, Seen, Schilf- und Sumpflandschaften, die eigenartigen Reize von Havel und Spree, nichts blieb ihm verborgen. Er wusste auch „die lieben, traulichen märkischen Städtchen mit ihren alten Türmen und Mauerwehren, dem ´Hansazeichen´ mitunter noch auf Tor oder Rathausgiebel“ zu schätzen, so seine eigenen Worte. Bolle nahm auf seinen Touren durch die Mark Brandenburg stets eine Foto-Ausrüstung mit. Das verwundert nicht, wenn man weiß, das er 1902, 1903 (?) und 1904 bei der Photographischen Gesellschaft Charlottenburg, 1905 – 1906 beim Camera-Club Charlottenburg, 1907 bei der Photographischen Gesellschaft Charlottenburg (jetzt „Liebhaberverein“) und 1909 – 1911 bei der Photographischen Gesellschaft („Amateurverein“) jeweils Vorsitzender war. Vielleicht bestand beim erstgenannten Verein ja auch von 1902 – 1911 eine durchgehende Mitgliedschaft.
Die vielen Entdeckungstouren, das hier angeeignete Wissen und die zahlreichen Fotos führten dazu, dass Bolle als Vorsitzender der „Vereinigung zur Förderung des Interesses an märkischer Natur und Heimat“ mit regelmäßigen Vortragsabenden begann. Es entstanden von September/Oktober eines Jahres bis etwa Mai des Folgejahres regelrechte „Winterzyklen“, in denen Bolle in Sälen (z. B. im Hörsaal des königlichen Kunstgewerbemuseums, im großer Konzertsaal des Hotels „Deutscher Hof“ oder im Festsaal des Märkischen Museums) gut besuchte Vorträge hielt und hierbei 100 – 120 Lichtbilder zeigte. Die Farbfotografie setzte sich ja erst in den 1930er-Jahren langsam durch. Deshalb waren alle großformatigen Lichtbilder, die gezeigt wurden, noch handkoloriert. „Die vorgeführten farbigen Lichtbilder, die sich durch wunderbare Plastik auszeichneten, fanden das Entzücken aller, so wurde dem Vortragenden reicher Beifall zuteil.“ So berichtete im November 1911 eine Zeitung über eine Veranstaltung. Bolles Bilder sind übrigens erhalten geblieben. Sie gehören zum Bestand des Stadtmuseums Berlin.
Für die Vorträge war anfangs ein Eintritt von weniger als 1 Mark zu bezahlen, später inflationsbedingt schon (April 1922) 5 bzw. 6 Mark. Eintrittskarten und auch Prospekte für alle Vorträge in einem Winterzyklus gab es u. a. auch im Kaufhaus Wertheim. Zum Zeitungsbericht über 10 Jahre „Märkische Vorträge“ vom Januar 1917 ist zu bemerken, dass Bolle schon vor 1907 entsprechende Veranstaltungen durchführte. Als Beispiel sei der 23.2.1906 genannt, als über „Die Havel (von der Quelle bis zur Mündung)“ berichtet und 105 Lichtbilder gezeigt wurden.
Es folgt eine unvollständige Aufstellung von Themen, die Bolle für seine „Märkischen Vorträge“ in Wort und Bild verwendete und die ihn in weiten Kreisen Berlins bekannt machten:
Die Havel (von der Quelle bis zur Mündung) – Die Spree, eine Wanderung von der Quelle bis zur Mündung – Märkischer Sand – Über die Märkische Schweiz in die Neumark – Land und Leute in der Uckermark – Maientage der Ruppiner Schweiz und die Landschaft der Prignitz – Berlin einst und heute – Wanderung über Buckow, Freienwalde, Schlaubetal – Fließ- und Seeidyllen bei Berlin – Märkische Landschaften am Großschiffahrtswege Berlin-Stettin – Vor den Toren Berlins.
Über die eigentlichen „Märkischen Vorträge“ hinaus besuchte Bolle zudem spezielle Veranstaltungen. Am 18.1.1910 sprach er vor dem „Ausschuss der Aquarien- und Terrarienvereine“. Der Vortragsabend stand unter dem Motto „Märkischer Sand, malerische Wanderungen in die Umgebung Berlins (zur Kenntnis von Geologie, Baugeschichte und Landschaft der Mark)“, 105 farbenprächtige Bilder wurden gezeigt. Eintritt 20 Pfennig. Ein weiteres Beispiel: Am 26. März 1914 fand im großen Hörsaal der Königlich landwirtschaftlichen Hochschule in der Invalidenstraße 42 ein Vortrag Bolles zum Thema „Landschaftliches und gärtnerisches aus der Mark Brandenburg“ mit 100 Lichtbilderaufnahmen „in natürlichen Farben“ statt. Über 200 Mitglieder und Gäste der Deutschen Gartenbau-Gesellschaft folgten ihm „mit lebhaftestem Interesse“.
Bolle, der seit 1912 nach vielen Umzügen bis zu seinem Tod in Wilmersdorf, Wilhelmsaue 34 wohnte, bezeichnete sich ja selbst auch als Schriftsteller. Artikel und Broschüren heimatkundlichen Inhalts sind bekannt, so seine Zeitungsbeiträge über „Berliner Weihnacht von 50 Jahren“ (1921) und „Karneval in Alt-Berlin“ (1923). Rund 100 Seiten umfasst seine 1912 herausgegebene Broschüre „Die Märkischen Sommerfrischen“, die von A wie Alt-Buchhorst bis Z wie Züllichau eine Vielzahl an Ortschaften aufführt, die er für einen Besuch als bereits anerkannte oder auch künftig denkbare „Sommerfrischen“ empfahl. Wenn er hier allerdings auch Tegel mit aufführte, kann das etwas zwiespältig gesehen werden. Der Ort hatte ja im Dezember 1910 schon 22442 Einwohner, ein Gemeinde-Gaswerk, ein Städtisches Gaswerk (das größte Europas) und das große Borsigwerk. Weitere schriftstellerische Werke Bolles mag es durchaus geben, ließen sich aber für den Schreiber dieser Zeilen bisher nicht ermitteln.
Seine „Märkischen Vorträge“ bot Bolle zumindest bis 1924 an. 1927 berichteten Berliner Zeitungen über seinen 70. Geburtstag (am 16.6.). „Tausende von Berlinern werden sich bei diesem Anlass mit vieler Freude seiner Vortragsabende erinnern, die stets vor dicht gefülltem Saale stattfanden und das gebildete Publikum aller Gesellschaftskreise anzogen“, so die Berliner Börsen-Zeitung vom 11.6.1926. Oscar Bolle verstarb 1929.
Sein Vater starb im Januar 1933, seine Mutter ging 82-jährig 1942 im Ghetto Theresienstadt – bald nach ihrer Einlieferung – an Unterernährung und Krankheiten zugrunde.
Georg Blumenthal (1888-1964) erhielt 1912 seine Approbation als Arzt, bereits seit 1911 arbeitete er am Robert Koch-Institut (RKI). Er bezeichnete sich selbst als „Christ von Geburt an“, gleichwohl trat er später aus der Jüdischen Gemeinde aus. Er gehörte nach eigenen Angaben vor 1933 einer Freimaurerloge an. 1931 heiratete er die Nichtjüdin Anna Agnes Heinrich. Sie war Sprechstundenhilfe bei ihrem Ehemann.
Nach einem Foto aus seinem Todesjahr 1964. Quelle: Erinnerungszeichen, Museum im Robert Koch-Institut
Dr. Blumenthal gelang es, das komplizierte Wassermannsche Verfahren zum Nachweis von Tuberkulose mit Tierblut wesentlich zu vereinfachen – ohne Tierblut.
Schon 1933 wurde Dr. Blumenthal die Kassenzulassung entzogen, wogegen er Beschwerde einlegte – mit Erfolg; seine Tätigkeit in einem Seuchen-Lazarett wurde ihm als „Frontkämpfereinsatz“ anerkannt. Seine 1932 eingereichte Habilitationsschrift lehnte die Universität Berlin 1933 ab, obwohl die Fakultät sie bereits positiv beurteilt hatte. 1942 musste das Ehepaar Blumenthal auf Anordnung der Gestapo und nach Denunziation durch eine Parteigenossin seine Wohnung in der Oldenburger Straße 47 verlassen; auch nach dem Krieg lebte die Denunziantin unbehelligt in der Blumenthalschen Wohnung. Erst vier Wochen später erhielten die Blumenthals eine „Judenwohnung“.
Immer wieder erging an Georg Blumenthal die Aufforderung, sich bei der Gestapo zu melden; ein Polizeioberleutnant warnte ihn jedes Mal vor dem Auftauchen der Gestapo bei ihm zu Hause. Er „… beobachtete nicht ohne geheime Schadenfreude, wie Himmlers Schergen vergeblich nach ihm fahndeten.“ Für den 30. Januar 1944 war er wieder zur Gestapo vorgeladen; aber am gleichen Tag wurde die Wohnung des Ehepaares im Hansaviertel ausgebombt. Da sich Georg Blumenthal extrem gefährdet sah, beschlossen er und seine Frau unterzutauchen. Er verfügte über einen Wehrpass, was ihm das Untertauchen erleichterte – er hatte immerhin ein Papier, mit dem er sich notfalls ausweisen konnte. 17 Tage übernachteten sie in Bunkern. Im März zogen sie nach Kähme, Kreis Birnbaum (Warthegau), heute Polen. Sie wohnten bei einem Polen und waren polizeilich gemeldet. Georg Blumenthal behandelte Polen, die von deutschen Ärzten nicht versorgt wurden. Aber dann bekam der Vermieter Angst, einen „Volljuden“ aufgenommen zu haben. Georg Blumenthal ging daher im April 1944 nach Berlin zurück, während seine Frau weiter in Kähme bei Bauern arbeitete, auch um ihren Mann versorgen zu können. Er nutzte nun die gemeinsame Laube auf der Insel Maienwerder im Tegeler See, war aber nicht polizeilich gemeldet und verfügte auch nicht über Lebensmittelkarten. Im Herbst kam Frau Blumenthal ebenfalls auf die Insel Maienwerder, ohne sich polizeilich anzumelden, um ihren Mann nicht zu gefährden. Im April 1945 wurden sie befreit. Ein nach dem Krieg gestellter Antrag auf Geldentschädigung wurde abgelehnt, da er „nicht begründet sei“.
Dr. Blumenthal arbeitete 20 Jahre lang als Assistent am Serologischen Institut des Robert Koch-Instituts, später als Ober-Assistent, ab 1928 auch als selbständiger Augenarzt, sowie als Dozent für Bakteriologie und Immunologie an der Berliner Universität. Ab 1939 wurde ihm die Ausübung der Arzttätigkeit untersagt, nur jüdische Menschen durfte er als „Augenbehandler“ medizinisch versorgen.
Bei seinem Antrag, als Opfer des Faschismus anerkannt zu werden, gab Georg Blumenthal als Zeugen auch „Ernst Biernatzki, Dienststellenleiter, Saatwinkel“ an – mit dem handschriftlichen Zusatz „echter Antifaschist“ und „Illegaler“. Biernatzki bestätigte dies durch seine eidesstattliche Versicherung.
Blick vom Fährhaus Saatwinkel auf Maienwerder – von Lienhard Schulz – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15512085
In seinem Lebenslauf für den Antrag beschreibt Georg Blumenthal die Lebensumstände auf Maienwerder: „Wir ernährten uns … durch Fangen von Kaninchen und bekamen durch die Mildtätigkeit fremder Menschen Kartoffeln, Kohlrüben, von Zeit zu Zeit Brot, einmal sogar Margarine. Butter fehlte uns leider völlig. Das Abhören des englischen Senders, der die Hoffnung auf ein baldiges Ende wachhielt, mit einem selbstverfertigten Radio hielt uns aufrecht und ließ uns auch die grimmigste Kälte vergessen, wenn wir am Morgen nur 2 Grad Kälte in unserer Laube hatten.“ Die Wasserpumpe umwickelte er mit Stroh, um sie im Winter vor der Kälte zu schützen. Auch als Bunkerbauer und „Luftschutzwart“ musste er sich betätigen, da auf Valentinswerder im Gegensatz zur allgemeinen Verdunklungspflicht Lichter brannten, so sollten die Bomben vom Rüstungsbetrieb Rheinmetall-Borsig auf die Inseln im Tegeler See gelenkt werden. Auch die Blumenthalsche Laube wurde mehrfach durch Bombentreffer beschädigt. „Im Frühjahr bekam unsere Insel Zuzug von entflohenen Soldaten und Volkssturmleuten, die von uns untergebracht und mit den neuesten Nachrichten über den Vormarsch unserer Befreier versorgt wurden, eine Betreuung, die wir schließlich bis zum Russeneinmarsch auch auf die Nachbarinsel Valentinswerder ausdehnen konnten.“
Georg Blumenthal stellte sich nach seiner Befreiung sofort dem Bürgermeister als Arzt zur Verfügung; er wurde am 23. Januar 1946 vom Magistrat (Abteilung Opfer der Nürnberger Gesetzgebung) als Opfer des Faschismus anerkannt.
1946 erhielt er wieder seine Zulassung als Augenarzt und durfte die serologische Abteilung des RKI leiten; er wollte nun seine 1933 zwangsweise unterbrochene Arbeit an der Serodiagnostik (Blutuntersuchung) fortsetzen. Ein Jahr später wurde er Professor an der Berliner Universität. „Er gehörte zu den Mitbegründern der Fachzeitschrift „Blut“ (heute: Annals of Hematology)…“ 1956 erhielt er das „Große Verdienstkreuz zum Bundesverdienstorden“. https://erinnerungszeichen-rki.de/georg-blumenthal/
Georg Blumenthal ließ sich 1958/1959 in der Händelallee 67 im Berliner Hansaviertel von den Architekten Klaus Kirsten und Heinz Nather ein Haus planen und errichten. Obwohl also erst nach der Internationalen Bauausstellung INTERBAU 1957 gebaut, genehmigten Otto Bartning und der leitende Ausschuss der Interbau die Pläne, auch wird das Haus in der Denkmalliste zur Interbau 1957 aufgeführt.
Haus Blumenthal, Händelallee 67, Hansa-Viertel, 1959. Quelle: https://www.h67.de/
1961 konnte er seine 50-jährige Zugehörigkeit zum Robert Koch-Institut, das Goldene Jubiläum, feiern. „Das kinderlose Ehepaar hatte testamentarisch die Gründung der Georg und Agnes Blumenthal-Stiftung verfügt, aus deren Mitteln bis heute die serologische Forschung am RKI gefördert wird.“ https://erinnerungszeichen-rki.de/georg-blumenthal/
- Blumenthal, Georg, Auskünfte auf dem Fragebogen zum Antrag auf Anerkennung als Opfer des Faschismus, inklusive Lebenslauf, Archiv Centrum Judaicum, 4.1, Nr. 204
- Stolperstein für Georg Blumenthals Mutter Rosa: https://www.stolpersteine-berlin.de/de/biografie/5172
- Robert Koch-Institut: Podcast zu Georg Blumenthal in der Reihe Erinnerungszeichen des Museums im Robert Koch-Instituts, Folge 1: https://erinnerungszeichen-rki.de/georg-blumenthal/
- Maassen, W.: Georg Blumenthal in memoriam (1964). Blut 10 (3): 97-98
- „Der Robinson vom Tegeler See“, Zeitungsbericht, ca. April 1946, nach einem Interview mit Prof. Blumenthal im historischen Robert-Koch-Saal der Charité, undatierte Kopie, Archiv M. Schröder.
- Schwoch Rebecca: Jüdische Ärzte als Krankenbehandler in Berlin zwischen 1938 und 1945. Frankfurt am Main 2018
- Uhlig, Katja – mündliche Informationen
Meinhard Schröder
Mit der (Wieder-) Eröffnung des Strandbads Tegelsee durch die neu gegründete Strandbad Tegelsee gGmbH findet eine Tradition ihre Fortsetzung, die 1932 ins Leben gerufen wurde. Je nach Betrachtungsweise könnte man auch an eine über 100 Jahre alte Tradition denken. Mehr hierzu im folgenden Artikel, der aufzeigen soll, wann einst in Tegel ein Badebetrieb entstand, dass in Wassernähe gern gezeltet wurde und dass dann das heutige Strandbad Tegelsee entstand.
Unser Rückblick beginnt im ausgehenden 19. Jahrhundert. In Tegel, Hauptstraße 21 (heute wäre dies Alt-Tegel 45), wurde auf einem großen Grundstück 1861 die „Schwartkopffsche Villa“ errichtet. Bereits im Mai 1872 konnte sie für den Sommer des genannten Jahres gemietet werden. Die „hart am See“ gelegene Besitzung kaufte Ende der 1880er-Jahren der Unternehmer Friedrich Hanncke. Bevor er im Dezember 1892 seinen Wohnsitz und seine Treibriemenfabrik vom Wedding nach Tegel verlegte, bot auch er die Villa für Sommeraufenthalte an. In entsprechenden Zeitungsanzeigen war ein „Bad vor der Thür“ (Mai 1889) bzw. ein „Herren- und Damenbad vor der Thür“ (April 1890) angegeben. Damit ist überliefert, dass es zumindest ab 1889 eine Badeanstalt am Tegeler See gab. Wann sie errichtet wurde, ließ sich bisher nicht ermitteln. Das Herren- und Damenbad mit Umkleiden, zwei Badebecken und auch Bootsverleih war wohl vom Beginn an im Besitz der Familie Siebert. Ein W. Siebert war ganz in der Nähe ab 1875 bis zumindest 1879 als Pächter einer Schankbude auf dem Ziekowschen Grundstück am Zugang zum Tegeler See. Hier entstand schon bald das gut besuchte „See-Restaurant“. Die Badeanstalt wurde seit 1901 (und wohl auch schon zuvor) von der verwitweten Auguste Siebert betrieben.
Im Juli 1901 forderte der Tegeler See an einem Tag gleich von zwei Männern das Leben, die die Siebertsche Badeanstalt besuchten. Ein Techniker aus Berlin fuhr mit seiner Braut nach Tegel. Während er zum genannten Bad ging, wartete das junge Mädchen im „See-Restaurant“ auf ihn. Nach zwei Stunden hielt sie bei Frau Siebert Rücksprache nach dem Verbleib ihres Bräutigams. Dabei erfuhr sie, dass die Besitzerin der Badeanstalt gerade den Amtsvorsteher über den Tod eines Badegastes unterrichtet hatte, der zu weit in den See hinausgeschwommen und ertrunken war. Der Verunglückte war ihr Bräutigam. Auch ein Geschäftsmann aus Berlin, Vater von acht Kindern, schwamm an demselben Tag von der Siebertschen Badeanstalt aus eine Strecke in den Tegeler See und kehrte nicht mehr zurück.
Am 18.3.1906 hatten 5 junge Männer gegen 15 Uhr bei dem Bootsverleiher Max Siebert an der dortigen Badeanstalt ein Fünfsitzerboot gemietet. Die Wellen des Tegeler Sees gingen recht hoch. Zwischen Reiherwerder und Hasselwerder wollte einer der Ruderer das Steuer übernehmen. Obwohl das leichte Fahrzeug schon stark schwankte, erhob er sich von seinem Platz. Das Boot schlug um, alle Personen stürzten in die Fluten. Der Vorgang wurde vom Dampfer „Neptun“ aus beobachtet. Der Führer des Dampfers steuerte sofort der Unglücksstelle zu. Doch es konnte nur der 19 Jahre alte Arbeiter Hinze gerettet werden, der sich am Rand des gekenterten Bootes festgehalten hatte. Die anderen 4 jungen Männer ertranken. Auguste Siebert musste, so der Haushaltsplan 1914 der Gemeinde Tegel, 100 M. für das Auflegen eines Zugangsweges zur Badeanstalt und zu den Booten bezahlen. Der Bootsverleiher Max Siebert hatte eine Anerkennungsgebühr von 50 M. für einen Bootssteg auf das Ufergelände des Tegeler Sees an die Gemeinde zu entrichten.
Als am 2.8.1914 der Weltkrieg begann, wurde der Bademeister der Siebertschen Badeanstalt sogleich als Soldat eingezogen. Ein zu dieser Zeit Jugendlicher berichtete, dass er deshalb nach zwei Unterrichtsstunden seine Schwimmübungen allein im Tegeler Fließ fortsetzen musste. Er erinnerte sich auch daran, dass von der Badeanstalt aus im Sommer Bigalkes Motorboot bis zu 20 Personen nach Hasselwerder brachte. Die Siebertsche Badeanstalt bestand wohl bis zum Jahre 1920.
Blicken wir nun zur Badeanstalt von Carl Pieper, die einst gut 350 m von der zuvor betrachteten Einrichtung entfernt dort lag, wo die Veitstraße am Tegeler See endete. Über diese Badeanstalt kann mehr berichtet werden. Carl Pieper erblickte in Nakel / Netze, einer Stadt im Regierungsbezirk Bromberg, das Licht der Welt. Als Baggermeister kam er 1895 nach Tegel, um im Dienst der Firma Borsig deren Ablage und Hafen zu bauen.
Später war er für die Gemeinde Tegel mit der Anlage der Uferpromenade beschäftigt, wobei es allerdings zu Problemen kam, auf die hier nicht näher eingegangen wird. 1897 entschied sich Pieper, hier eine Badeanstalt zu errichten. Die Konzession hierfür war kein Problem. Eine schnelle Ausführung führte dazu, dass noch im Sommer des genannten Jahres der Badebetrieb aufgenommen wurde. Schnell entwickelte sich ein „idyllisches“ Bad mit Besuchern aus Tegel. Aber auch aus Berlin kam „gutes, solides“ Publikum. Künstler des Wintergartens, Bühnenstars besuchten die Badeanstalt, ja, selbst die Operettendiva Fritzi Massary soll hier häufig gebadet haben. Männlein und Weiblein durften hier – wie auch in der Siebertschen Badeanstalt – „nach dem Prinzip des modernen Familienbades“ – hinausschwimmen in die „hohe See“. Allerdings war es in Piepers Badeanstalt schon eine kleine Sensation, dass hier die Bassins für Männer und Frauen nur durch einen Balken, also nicht durch eine sonst übliche Bretterwand getrennt waren. Und die Moral hat davon noch nicht gelitten, schrieb damals eine Zeitung. Die Aufenthalts- und Badesituation bei Pieper änderte sich schlagartig, als die Straßenbahnlinie nach Tegel auf elektrischen Betrieb umgestellt wurde und Berliner Zeitungen vom „Seebad Ostende“, wie Pieper seine Anlage nun nannte, berichteten. Der Name war eine Anspielung auf das mondäne Seebad in Belgien. Jetzt konnten die Großstädter behaupten, für eine Fahrt von anfangs 25 Pf. und dann bald auf 10 Pf. reduziert im „Seebad Ostende“ gewesen zu sein. Bereits ab Juli 1900, dem Zeitpunkt des Beginns des elektrischen Betriebes der Straßenbahn, wanderten an schönen Sonntagen große Menschenmengen von der Straßenbahnhaltestelle Veitstraße zur Pieperschen Badeanstalt. Das Bad war nun nicht mehr wiederzuerkennen.
Tätowierte Burschen, „ebenso dunkel im Ruf – soweit man von einem solchen überhaupt noch sprechen konnte – wie im Aussehen“ bevölkerten die Badeanstalt. Niemand war vor ihnen sicher. Etwa acht Polizisten, die mobil gemacht wurden, konnten nichts ausrichten. Sie konnten ja nicht „blankziehen“, und Gummiknüppel hatten sie damals noch nicht. Es wurde so schlimm, „dass ein anständiger Mensch die Badeanstalt nicht mehr betreten konnte“. Pieper griff zur Selbsthilfe. Er stellte 12 „stabile“ Schifferjungen aus Friedrichsthal bei Oranienburg ein, die sonst Baggerarbeiten am Tegeler Strand verrichteten, stattete sie mit Gummiknüppeln aus und schuf damit eine eigene „Badepolizei“. Eine Woche lang gab es „Wichse“. Das wirkte Wunder. Die „schweren Jungs“ aus Berlin blieben fern, nun konnten wieder die „anständigen Menschen“ im Tegeler See baden.
Am 30.8.1907 nahm sich ein etwa 31 Jahre alter Mann im Tegeler See das Leben. Beim Bootsverleih von Pieper hatte er ein Ruderboot gemietet. Er fuhr längere Zeit auf dem See umher und sprang dann in der Nähe der Insel Hasselwerder ins Wasser und versank in den Fluten. Obwohl Schiffer zur Unfallstelle fuhren und nach dem Mann tauchten, konnte er aber nicht mehr gerettet werden.
Im Februar 1908 unternahm Carl Pieper mit anderen Personen zusammen Rettungsversuche. Der Postschaffner Münde aus der Müllerstraße wollte sich auf der nicht mehr freigegebenen Eisfläche des Tegeler Sees von Tegel nach Saatwinkel begeben. Er brach auf dem Eis ein, rief um Hilfe und versuchte, sich an den immer wieder abbrechenden Eiskanten festzuhalten. Carl Pieper sprang mit anderen Männern zusammen in ein Boot, weil nur so eine Rettung möglich erschien. Diese war sehr schwierig, weil für das Vorankommen immer erst das Eis aufgeschlagen werden musste. Schließlich konnte der Postschaffner in das Boot gezogen und dann zum Paul-Gerhardt-Stift gebracht werden.
Einen wiederholten Selbstmordversuch unternahm im Juni 1908 der Arbeiter R. aus der Brunowstraße. Seiner Frau sagte er, dass er sich das Leben nehmen wolle, weil er keine Arbeit mehr bekäme. Nur mit Hemd und Hose bekleidet, rannte er zum Tegeler See, gefolgt von seiner hilferufenden Frau und anderen Personen. Bei der Pieperschen Badeanstalt sprang er in den See. Drei Ruderer fischten den sich heftig Wehrenden aus dem Wasser und transportierten ihn zur Badeanstalt, wo er behandelt und wieder voll zu Bewusstsein gebracht wurde. Plötzlich stieß er seine Retter beiseite, verließ die Anstalt und sprang wieder ins Wasser. Er wurde erneut gerettet und nun der Polizei übergeben.
Zumindest 1910 nutzte der Tegeler Schwimmverein „Delphin“ Piepers Badeanstalt. Für die Männer-, Jugend- und Schülerabteilung begannen die Übungsstunden dienstags, mittwochs, freitags und sonnabends um 18 Uhr und für die Frauen- und Mädchenabteilung montags und donnerstags ebenfalls um 18 Uhr.
„Tegel wird Weltbad“, so die Überschrift eines kleinen Artikels einer Berliner Zeitung im Juli 1913. „Um den nicht in die Sommerfrische gegangenen Einwohnern wenigstens eine Annehmlichkeit eines Badelebens zu verschaffen, hat die Gemeindeverwaltung von Tegel beschlossen, das Strandbild am Tegeler See durch Aufstellung von vermietbaren Strandkörben interessanter zu gestalten“. Auf dem Spielplatz vor der Badeanstalt von Pieper wurden 3 (!) Strandkörbe aufgestellt. Ein einsitziger Strandkorb kostete 10 Pf. stündlich, 30 Pf. täglich oder 2 M. wöchentlich. Der Strandkorb für zwei Personen war beim Parkwächter in den Anlagen mit 15 Pf., 50 Pf. bzw. 3 M. zu bezahlen. „Es fehlen nur noch die Strandkapelle sowie die Einführung einer Kurtaxe, um aus Tegel ein Heringsdorf zu machen“. So einfach erschien also damals der Weg zu einem Weltbad. 1914 erwartete die Gemeinde Tegel in ihrem Haushaltsplan immerhin Einnahmen von 200 M. für das Vermieten von „Strandzelten“, wobei mit diesem Wort sicher die jetzt vermehrt aufgestellten Strandkörbe gemeint waren. Später, u. a. am 12.5.1922, schrieb die Parkverwaltung die Verpachtung der „Strandzelte“ zum Zwecke der Vermietung durch Privatpersonen aus. Bewerbungen von Kriegsbeschädigten erhielten den Vorrang. Auch Carl Pieper musste wie Auguste Siebert an die Gemeinde Tegel einen jährlichen Betrag entrichten. Seine Anerkennungsgebühr für das Auflegen eines Zugangssteges zur Badeanstalt, Restauration und zu den Motor- und Ruderbooten betrug 1914 300 M. Die Badeanstalt wurde im Frühjahr 1926 abgerissen und „verlegt“, weil an dieser Stelle durch die Firma Borsig ein Dammbau „quer durch den Tegeler See“ bis zur Gasanstalt hin aufgeschüttet werden sollte, der im Juni 1926 schon „ziemlich weit fortgeschritten“ war. Später sollte am bisherigen Standort der Badestelle eine neue Anlage „mit allen zeitgemäßen Einrichtungen“ entstehen. Dazu sollte es jedoch nie kommen.
Erwähnt sei noch, dass es an der Uferpromenade gar eine dritte Badeanstalt gab. Am heutigen Borsighafen gelegen, gehörte sie zum Restaurant „Seeschlößchen“, das Julius Klippenstein besaß. Die Gaststätte musste in Folge des ersten Weltkrieges schließen. Über die Badeanstalt sind keine Einzelheiten bekannt.
Wir betrachten nun die Städtische Badeanstalt Tegel, die etwa 200 m nördlich der im Abbruch befindlichen Badeanstalt von Pieper entstand. Bei dem „Neubau“ wurde die Materialien der Pieperschen Anlage wieder verwendet. Insofern wurde die alte Einrichtung im allerdings erweiterten Umfang an neuer Stelle wieder aufgestellt. Für Damen und Herren entstanden je 15 x 27 m große Badebecken, während ein drittes Becken mit 20 x 27 m besonders groß für Kinder (Schwimmer und Nichtschwimmer) zur Ausführung kam. Die Badefläche betrug insgesamt 2000 m². Vor den Badebecken entstanden Einzelzellen, ausreichende Umkleideräume mit Kleiderablagen und ein Erfrischungsraum. Der Boden der Badebecken wurde anfangs durch Ausbaggerung von allen Verschmutzungen gesäubert und anschließend mit reinem Flusssand aufgeschüttet. Ein farbiger Anstrich des Bauwerks vermittelte den Eindruck eines Neubaus, der sich „harmonisch in die schöne Landschaft einfügte“. Da die Arbeiten des Bezirks-Hochbauamtes „aufs Eifrigste“ betrieben wurden, konnte die Städtische Badeanstalt Tegel bereits am 15.6.1926 ihren Badebetrieb aufnehmen. Pächter der Anstalt wurde – Carl Pieper! Zur Aufstellungen über die Eintrittspreise ist ergänzend zu erwähnen, dass Erwerbslose werktags von 13 – 1630 Uhr die Bäder in der Flußbadeanstalt Tegel, wie sie auch genannt wurde, kostenlos besuchen konnten.
Schon bald mussten morsche Bretter, die ja noch von der alten Badeanstalt stammten, ausgetauscht werden. Es erfolgte aber keine vollkommene Erneuerung des Fußbodens, so dass im März 1929 eine Zeitung die Befürchtung äußerte, dass Besucher durch die morschen Bodenbretter brechen könnte. Zumindest ab 1933 war der Gastwirt Max Hempel Pächter der Städtischen Badeanstalt Tegel, bis sie 1936 abgerissen wurde. Damit endete die Möglichkeit, an der Uferpromenade in einer Badeanstalt baden zu gehen. Ob hier danach noch „frei“ gebadet wurde, ist nicht überliefert.
Wir blicken nun zur Liepe, der vielleicht unter diesem Namen weniger bekannten Bucht des Tegeler Sees. Sie grenzt an die Halbinsel Reiherwerder, auch das Forsthaus Tegelsee ist nicht weit entfernt. Hier befindet sich ja auch heute noch eine kleine Badestelle. In welchem Zeitraum hier das Freibad Tegel bestand, ließ sich bisher nicht eindeutig ermitteln. Ein Zeitungsartikel aus dem Jahre 1928 erwähnt in diesem Zusammenhang einen uns nun schon bekannten Namen: Carl Pieper. Er richtete mit Motorbooten vor dem ersten Weltkrieg eine Überfahrt-Möglichkeit zur Liepe ein. Im dortigen Freibad herrschten „tolle Zustände“, wie sie Pieper bereits in seinem „Seebad Ostende“ kannte. 18 Polizisten in Zivil sollen hier ein halbes Jahr lang Ordnung gehalten haben, um dann machtlos zu sein. „Rüpelhafter Terror“ setzte ein, bis Pieper die Haupträdelsführer aus der Schlägerkolonne zur Aufrechterhaltung der Ordnung anwarb. Schnell herrschte fortan Ruhe. Der Badebetrieb entwickelte sich jetzt so gut, dass an heißen Sommersonntagen des Jahres 1910 etwa 15000 (?) Personen mit drei Motorbooten nach dem Bad übergesetzt wurden. Dieser Betrieb musste dann unerwartet eingestellt werden. Eine Begründung hierfür ist im oben erwähnte Zeitungsartikel aber nicht schlüssig. Dort wird berichtet, dass nach dem Krieg der bekannte Zweckverband, der Vorläufer der Eingemeindung, entstand und dem Tegeler Bademeister (Pieper) die Bootsanlegestellen entzog. Der Zweckverband entstand bereits 1912, der Krieg begann 1914 und die Eingemeindung erfolgte 1920. Dass bereits der Zweckverband zu einer Einstellung des Motorbootverkehrs führte, ist eher unwahrscheinlich.
Im September 1915 wurde das Baden im Tegeler See außerhalb der zugelassenen Badeanstalten und Freibäder auch auf der Strandfläche, die 50 m nördlich des Landvorsprungs gegenüber der Insel Scharfenberg (Scharfenberger Enge) begann und mit dem Aufhören des Altholzbestandes ihr Ende fand, bis auf weiteres verboten. Am 24.6.1920 berichtete eine Zeitung über eine Sitzung der Tegeler Gemeindevertreter: Für das Freibad am Tegeler See werden die Mittel bewilligt. Es soll verlegt und noch vor Beginn der Ferien eröffnet werden. Schon am 9.7.1920 war dann zu lesen:
Tegel. Ein Freibad. Die Gemeindeverwaltung hat sich wegen der vielen Todesfälle durch Ertrinken entschlossen, ein Freibad einzurichten. Es befindet sich gegenüber der Insel Scharfenberg, unweit Tegelort. Der Eintrittspreis beträgt für Erwachsene 30 Pf., für Kinder 15 Pf. Unglücksfälle dürften hier vermieden werden können, da Badewärter mit Rettungsbällen zur Stelle sind. Außerdem sind Garderoben dort, ähnlich wie im Freibad Wannsee. Das Publikum wird im eigenen Interesse gebeten, an verbotenen Stellen nicht zu baden, sondern das Freibad zu benützen.
Damit gab es im Juli 1920 bereits ein Freibad an jener Stelle, an der später, wie noch zu berichten sein wird, das Strandbad Tegelsee entstand. Zur Badesaison 1921 wurde das Freibad Tegel an der Scharfenberger Enge durch Hinzunahme weiteren Ufergeländes so vergrößert, dass es eine Badefront von 450 m und eine Fläche von 2 Hektar hatte und damit selbst bei stärkstem Andrang allen Besuchern reichlich Bewegungsfreiheit gestattete. Der Eintrittspreis betrug jetzt für Erwachsene 50 Pf. und für Kinder 25 Pf., bei klassenweisem Besuch „unter Führung“ nur 10 Pf.
1922 eröffnete das Freibad am 25.5. seinen Betrieb. Inflationsbedingt lagen die Eintrittspreise jetzt bei 1 M. für Erwachsene und 50 Pf. für Kinder. Für Schulklassen blieb es bei 10 Pf. je Kind. Das Bad war mit der Straßenbahn (Linie 25: Charlottenstraße – Tegelort, Haltestelle Habicht) und einem Fußweg von 10 Minuten „auf herrlichem Waldwege“ zu erreichen. Auch der Wasserweg von Tegel war eine „bequeme Fahrgelegenheit“. Das Freibad Tegel als „Vorläufer“ des Strandbads Tegelsee war im Mai 1923 bereits vom Erdboden verschwunden, weil schon 1922 mehr Menschen außerhalb als innerhalb des Freibades badeten. Der Haushaltsplan 1927 sah für den Verwaltungsbezirk Reinickendorf 75000 RM als erste Baurate für die Errichtung eines Freibades am Tegeler See vor. Mit dem Bau wurde jedoch nicht begonnen.
In unserem Rückblick besuchen wir jetzt den Zeltlagerverein „Tegelsee“, eine Zelt-Kolonie, die 1918 im Abschnitt zwischen der Bucht Liepe und dem zuvor beschriebenen Freibad Tegel am Wald- und Wasserrand entstand. Von einem leichten Zaun umgeben, standen hier im August 1922 vom Frühjahr bis zum Herbst 25 – 30 Zelte von der einfachen Dreieckform bis zu den senkrechten Wänden und dem besonderen Dach. Einem Teil der Zeltstoffe sah man noch an, dass sie aus Heeresbeständen stammten. Die ein- oder zweistöckigen Bettstellen, je nach Personenzahl, bestanden aus Latten oder Brettern, hatten Drahtböden und einfachen Matratzen. Wolldecken ersetzten die Federbetten. Ein Tisch, ein paar Stühle und der notwendigste Hausrat gehörten zur weiteren Ausstattung. Kleine, alle gleich aussehende braun lackierte Kochherde mit einem etwa 2 m hohen Rauchabzugsrohr standen abseits am Wasserrand. Wurde es kalt, dienten sie nach Entfernung des Rohres im Zelt als Wärmequelle.
Am Eingang des Zeltplatzes trug eine Holztafel die Inschrift Zeltlagerverein „Tegelsee“. Die Zeltsiedlung war polizeilich genehmigt, die Plätze wurden von der Forstverwaltung angewiesen. Die Gebühr für einen Zeltschein betrug hier 15 M., eine Berechtigung für das Sammeln von dürrem Holz kostete 12 M. Beide Scheine stellte die Oberförsterei Saatwinkel aus. Zum Zeltschein ist noch zu bemerken, dass eine Verordnung aus der Zeit um 1907 bereits festlegte, dass für das Zelten an den Ufern der märkischen Gewässer eine Genehmigung erforderlich war. Der Zeltschein galt in ganz Brandenburg für ein Jahr und kostete 1927 2 M. Wurde vielleicht anfangs nur das Wochenende unter dem Zeltdach verbracht, dann schloss man am Sonntag abends die Zelttür ab und bat den Nachbarn um Bewachung. Für Frauen und Kinder entstand oft auch ein durchgehender Sommeraufenthalt. Der Mann nahm in der Frühe ein Bad im Tegeler See und fuhr dann mit der Straßenbahn zur Arbeit. Die Frau ging auf Waldwegen nach Tegel, um Lebensmittel einzukaufen, sofern sie der Mann nicht aus Berlin mitbrachte. Kam dieser gegen 17 Uhr zum Zeltplatz zurück, war die warme Mahlzeit schon vorbereitet. Waren einmal alle Zeltbewohner abwesend, dann wurde ein Wächter aufgestellt, der dadurch seinen Sommeraufenthalt gratis hatte und noch etwas Geld bekam. Für Fahrten nach Tegel wurden auch Fahrräder gern benutzt. Vom sogenannten Freibad aus, das wie berichtet bis 1922 bestand, konnte man sich zudem für 15 Pf. mit dem Motorboot nach Tegel bringen lassen.
Erwähnt sei noch, dass es schon im Mai 1914 durch eine Polizeiverordnung verboten war, außerhalb der zugelassenen Badeanstalten und Freibäder vom Ufer aus zu baden. Selbst am Ufer war der Aufenthalt in Badebekleidung oder gar unbekleidet verboten. Das galt auch bei einem Aufenthalt in Booten. Dass diese Verordnung kaum beachtet und selten durchgesetzt wurde, muss sicher nicht extra hervorgehoben werden. Ab 1.11.1922 war dann im Prinzip alles erlaubt, was nicht ausdrücklich verboten war.
Im Januar 1932 erfuhren Zeitungsleser, dass „einem von dem Bezirksamt vorgelegten Vertrage betreffs Errichtung eines Freibades am Tegeler See an der Scharfenberger Enge zugestimmt wurde. Da die Zustimmung der zentralen Behörden erfolgen wird, erscheint die Errichtung des Freibades, wenn auch vorläufig noch von privater Seite, gesichert“.
Den Auftrag für die Errichtung des Bades erhielt eine Hoch- und Tiefbaufirma aus Schmargendorf, die mit der Ausführung der Arbeiten in der letzten Juni-Woche des genannten Jahres begann. „Mit Volldampf“ machten sich über 100 Arbeiter, teils mit Überstunden, an das Werk. Mitte Juli 1932 hatte das Gelände von der Scharfenberger Enge ostwärts verlaufend eine Wasserfront von 500 m. Die zuvor beschriebene Zeltstadt wurde mit einbezogen. Die Grundstückstiefe reichte bis zum Schwarzen Weg. Ein hoher Zaun umgab das Bad bereits. Einige Bäume wurden schon entfernt, andere waren noch zur Fällung vorgesehen.
Heiße Sommertage sorgten für viel Schweiß beim Planieren des Geländes. Zwei Kassenhäuschen in der Mitte der Geländefront, zwei massive einstöckige Hallen mit Flachdach in 30 m Länge und 10 m Breite mit je 80 Umkleidekabinen, ein massives Toilettengebäude und einige hölzerne Verkaufsbuden, hellgelb und dunkelrot angestrichen, das waren die bereits bestehenden Bauten. In der Grundstücksmitte sollte noch ein provisorisches Wirtschaftsgebäude entstehen, das im Herbst einem massiven Bau weichen sollte.
Für den Nichtschwimmerbereich waren Mitte Juli Bojen zur Abgrenzung vorhanden, jedoch noch nicht ausgelegt. Dies war besonders wichtig, weil hier in der Vergangenheit viele Badende ertranken. Zum Personal des Bades gehörten zwei Bademeister und drei Rettungsschwimmer. Zudem war eine Station der Saatwinkler Arbeitersamariter im Bad geplant. Nach dem Zeitungsartikel v. 17.7.1932, dem die zuvor genannten Informationen entnommen wurden, sollte „ am Sonntag1 nun die provisorische Eröffnung des Bades sein, dessen sich der Berliner nach Fertigstellung wahrlich nicht zu schämen braucht“.
Eine Woche später berichtete dieselbe Zeitung, dass das Freibad Tegelsee in 10 bis 14 Tagen vollendet sein wird und dann völlig der Öffentlichkeit übergeben werden könne. Die Bojen waren schon ausgelegt, eine Kabinenhalle bereits fertig und in Nutzung. Noch waren Arbeiter im Bad beschäftigt. An einem Freitag2 Nachmittag erfolgte die baupolizeiliche Abnahme des Strandbades Tegelsee durch das Bezirksamt Reinickendorf. Diese Handlung war die offizielle Eröffnung des Strandbades, wobei zu bemerken ist, dass der 5.8.1932 ausgerechnet der letzte Ferientag in Berlin war. Zu diesem Zeitpunkt waren bis auf einen kleinen Rest alle Planierungsarbeiten beendet. Auf dem Strand mit seinem hellen Sand standen Strandkörbe und Liegestühle. Hellfarbige Bojen trugen die Aufschrift „Grenze für Nichtschwimmer“, während 100 m vom Ufer entfernt die Bojen mit der Aufschrift „Grenze des Strandbades Tegel“ den Schwimmern Halt geboten. Die Wassertiefe lag zwischen 4 und 8 m. Ein „Pier“ reichte über die Nichtschwimmergrenze hinaus. Am Ende war ein 4 m hoher Wachtturm für den Bademeister mit einem Ausblick zu allen vier Seiten. Am Steg lag ein Rettungskahn, der bei Bedarf von den dem Bademeister unterstehenden Rettungsschwimmern genutzt wurde. Die großen Hallen mit ihren je 40 Dauer- und Wechselkabinen waren vollendet. 30 große Papierkörbe seien noch erwähnt. Es ist durchaus nicht übertrieben, wenn man dieses Strandbad das schönstgelegene aller Berliner Freibäder und ein Schmuckstück unseres Nordens nennt. So das damalige Lob einer Zeitung.
In der Folgezeit gingen Arbeiten zum Ausbau des Strandbades weiter. Mitte April 1933 waren sie bis auf Kleinigkeiten vollendet. Eine offizielle (erneute) Eröffnung war für Mitte Mai des Jahres geplant. Licht-, Luft- und Sonnenbäder konnten schon unentgeltlich eingenommen werden. Im Herbst 1932 wurde die Zeltstadt vom Strandbad-Gelände entfernt. Der Nichtschwimmerbereich erfuhr durch Aufschüttung von 50 Kahnladungen Sand auf den Seeboden eine erhebliche Vergrößerung auf jetzt 60 m im Wasser. Schon 1932 hatte man festgestellt, dass sich an hier von 90 cm auf 1,60 m ab. Mit Hilfe eines selbst gebauten Floßes wurde Sand herbeigeschafft und dem Übel damit kurzfristig abgeholfen.
Gleich hinter dem „Schloßrestaurant“ (Restaurant Alter Fritz) zeigte ein Wegweiser an:„Zum Strandbad Tegelsee“. Die Straßenbahn nach Tegelort erhielt an der Haltestelle „Habicht“ den Zusatztitel „ Haltestelle Strandbad Tegelsee“, der auch vom Schaffner mit ausgerufen wurde.
Erster Pächter des Strandbades Tegelsee mit seinen 36000 m² Gelände war Paul Willner. Er kannte sich in dem Bereich gut aus, war er doch zuvor ab 1920 Revierförster im nahen Forsthaus Tegelsee. 1936 war das Bad von 6 Uhr in der Frühe bis zur Dunkelheit geöffnet. Der Eintritt für Erwachsene betrug 15 Pf., Kinder zahlten 5 Pf. Das Sprungbrett hatte eine Breite von 2 m, Turngeräte standen zur Verfügung.
Am 21.1.1937 beschäftigten sich die Ratsherren der Reichshauptstadt unter der Leitung des Oberbürgermeisters Dr. Lippert in einem Sitzungspunkt mit dem Freibad Tegelsee. Es ging um einen Vergleich mit der Firma Hermann Schäler, jenem Baugeschäft, dass das Strandbad errichtete. Ratsherr Scheller berichtete von einer Übervorteilung, schweren Schädigung und zu befürchtendem wirtschaftlichen Zusammenbruch des Pächters Willner. Die Frage einer Weiterführung des Strandbades ab 1.4.1938 durch die Stadt Berlin wurde gestellt. Von einer 80000 bis 90000 RM hohen Schadenssumme durch nicht ausgeführte Bauten und minderwertigem Material wurde gesprochen. Mit dem Einvernehmen über einen Vergleich in Höhe von 37000 RM endete dieser Punkt der Sitzung. Willner war wohl bis 1939 Pächter des Strandbades. Als u. a. am 10.3.1940 die Sommerbadeanstalt mit Schankwirtschaftsbetrieb durch das Bezirksamt Reinickendorf neu ausgeschrieben wurde, erhielt des Gastwirt Richard Sprang den Zuschlag. Er musste ein Betriebskapital von circa 12000 RM nachweisen.
Zu dieser Zeit verfügte das Strandbad im Tegeler Forst Nord, Jagen 65 am Schwarzen Weg, über ein Sprungbrett von 1 m und eine Wassertiefe bis zu 3,50 m. Es war von 7 Uhr morgens bis zum Eintritt der Dunkelheit geöffnet. Der Eintrittspreis lag bei unverändert 15 bzw. 5 Pf. für Erwachsene bzw. Kinder. Sprang blieb über das Kriegsende hinaus bis 1951 Pächter. Vom Folgejahr an war es der Gastwirt Willi Neumann, im Zeitraum von 1962 bis 1973 Gerda Neumann. Auf zeitlich folgende Einzelheiten (weitere Pächter, Übernahme des Strandbades durch die Berliner Bäderbetriebe in den 1990er-Jahren und die zuletzt jahrelange Schließung) wird hier verzichtet. Es bleibt zu hoffen, dass mit der Wiedereröffnung des Bades durch den Verein Neue Nachbarschaft Moabit am 3.6.2021 zu einem späteren Zeitpunkt eine lange erfreuliche Fortschreibung dieses Beitrages möglich wird.
1 Das Datum hierzu: 17.7.1932
2 Vermutlich Freitag, der 5.8.1932
In einem früheren heimatkundlichen Beitrag wurde bereits berichtet, dass die Deutsche Reichs-Postverwaltung 1873 in Tegel zur Freude und Erleichterung der Dorfbewohner eine Postanstalt eröffnete. Es war eine in der Schloßstraße gelegene Postexpedition. Später (1899) war die nun in der Berliner Straße befindliche Einrichtung bereits ein Postamt 2. Klasse, dass 1900 in die Bahnhofstraße (heutige Grußdorfstraße) umzog.
Das Jahr 1900 war für Postkunden insofern von Bedeutung, als am 1.4. ein „postalisches Groß-Berlin“ eingeführt wurde. Jetzt galten außer in Berlin auch für viele Ortschaften im Umfeld der Stadt ermäßigte Portosätze. Hiervon waren u. a. Reinickendorf-Ost und Reinickendorf-West betroffen, Tegel jedoch nicht. Begründet wurde dies mit einem zwischen Berlin und dem Vorort fehlenden baulichen Zusammenhang.
Zuvor hatten 1896 auf Tegeler Gebiet die Arbeiten für die Errichtung eines Gefängnisses begonnen, die zwei Jahre später mit der Aufnahme der ersten 90 Gefangenen weitgehend abgeschlossen waren. Für diese Haftanstalt, die wir ja heute als Justizvollzugsanstalt in der Seidelstraße kennen, gab es damals eine Besonderheit. Die Tegeler Chaussee, so noch der damalige Straßenname, gehörte nämlich postalisch zu Reinickendorf-West. Das galt somit für die Anstalt selbst wie auch für einen davor befindlichen Briefkasten. Auch die Bernauer Straße zählte zum Ortsbezirk Berlin. Doch warum ausgerechnet diese Straße? Die Erklärung ist, dass die Bernauer Straße einst auf dem Gelände des Schießplatzes lag, mithin dem Militärfiskus gehörte. Lange verhandelte die Gemeinde Tegel mit dem Fiskus zwecks Übernahme der Unterhaltspflicht der Straße. Ausbau und Pflasterung sollten 800000 Mark kosten. Der Fiskus war (November 1907) bereit, Tegel 100000 Mark Entschädigung zu zahlen, doch die Gemeinde bestand auf 120000 Mark. Im Folgejahr bot das Kriegsministerium „wegen der schlechten Finanzlage“ immerhin 105000 Mark an.
Doch zurück zu den Postkuriositäten, die uns Berichte aus den Jahren ab 1904 vermitteln. Der Briefkasten vor dem Gefängnis war „der beliebteste Kasten Tegels“. Hier eingeworfene Briefe wurden zur Ortstaxe von 5 Pfg. nach Berlin befördert. Hingegen erforderten Briefe, die in alle weiteren Tegeler Briefkästen eingeworfen wurden, das Fernporto von 10 Pfg. Die Firma Borsig ließ alle Briefe zum „Gefängnisbriefkasten“ bringen, ebenso das Tegeler Amtsbüro. Monatlich gingen nach Auskunft Tegeler Einwohner 3000 Briefe nur über diesen Briefkasten nach Berlin. Hinzu kamen noch jene Briefe, die direkt nach Berlin mitgenommen wurden. Umgekehrt wurde durch „freiwillige Angaben“ im Juni 1904 ermittelt, dass monatlich etwa 2000 Karten und Briefe in Tegel eingingen, die durch unzureichendes Porto mit Strafen von 10 bis 15 Pfg. belegt wurden.
Kommen wir nun zu besonderen Postkuriositäten. Das Städtische Gaswerk VI in Tegel wurde ab 1902 erbaut und 1905 in Betrieb genommen. Es hatte in der Bernauer Straße gleich im ersten Haus nahe Berliner Straße ein Baubüro. Briefe dorthin waren nach Ortstaxe zu berechnen. Der Fernsprecher hatte die Tegeler (!) Rufnummer 132. Nur wenige Schritte entfernt, auf dem Gelände der Gasanstalt gelegen, befand sich eine Baukantine. Sie raten richtig! Briefe an die Kantine erforderten Fernporto. In der Bernauer Straße lag auch das Wasserwerk der Gemeinde Reinickendorf.
Wenn im Jahre 1904 die Ehefrau des dort wohnhaften und tätigen Heizers St. Hillar eine Postkarte aus Berlin erhielt, dann war diese mit (nur) 2 Pfg. frankiert und gerichtet an „Frau Hillar, Wasserwerk Reinickendorf, in Reinickendorf-West, Bernauer Straße“. Der Ankunftsstempel des Postamtes Reinickendorf (West) war damals noch üblich und trug zumeist das gleiche Tagesdatum wie der Aufgabestempel. In der Bernauer Straße befanden sich damals auch das „Restaurant zum Waldkater“ von Korla, die „Irrenanstalt“ von Thieme und nicht zuletzt das Städtische Wasserwerk. Für diese Anlieger galt ebenfalls das Berliner Ortsporto.
Borsigwalde gehörte 1904 postalisch (seit Gründung als Kolonie 1898) noch zu Tegel, war aber ein Teil der Gemeinde Dalldorf (Wittenau). Wollte man einen Brief von Borsigwalde nach Dalldorf verschicken, dann ging dieser erst nach Tegel, von dort nach Berlin und schließlich über die Nordbahn nach Dalldorf. Das dauerte zum Teil 24 Stunden für eine Strecke, die man in 20 – 25 Minuten zu Fuß zurücklegte. Das Briefporto betrug 10 Pfg. Schon 1901 hatten sich Einwohner von Dalldorf über postalische Missstände beklagt und statt der Postagentur die Errichtung eines Postamtes und die Einführung der Ortstaxe gefordert. Doch es änderte sich zunächst nichts.
Am 23.4.1905 beschäftigte sich noch einmal eine Berliner Zeitung mit dem von und für Tegel geforderten postalischen Nachbarortsverkehr. Das Tegeler Postamt hatte hierzu im Dezember 1904 die folgenden ganz konkrete Zahlen erhoben:
Blicken wir zwischendurch auch auf den Telefonverkehr der damaligen Zeit. Es war kurios, dass die öffentliche Fernsprechstelle in Reinickendorf (West) bis August 1904 zum Ortsbereich von Tegel gehörte. Erst danach wurde sie in den Ortsbereich von Reinickendorf (Ost) einbezogen. Der Sprechbereich und die Gebührensätze waren jetzt dieselben wie für Reinickendorf (Ost).
Am 1.4.1905 gab es in Tegel 292 Telefonanschlüsse und 56 Privatnebenanschlüsse. Tierarzt Ewald Post aus der Schloßstraße 25 hatte natürlich einen Telefonanschluss. „Telephon-Nervosität“ war für ihn der Grund, am 24.10.1905 eine Beschwerdeschrift über eine Telefonistin an das Tegeler Postamt zu richten. Am Vortag verlangte er nämlich eine Verbindung mit einer Berliner Telefonnummer. Erst wurde er falsch verbunden, dann dauerte es mehrere Minuten bis zur richtigen Vermittlung. Post war der Meinung, dass er absichtlich falsch verbunden wurde. Zudem, so der Tierarzt, hätte die Telefonistin während des Sprechens mit ihm auch noch gelacht. Die Beschwerdeschrift schloss mit der Bemerkung: „Er sei nicht gesonnen, sich durch Albernheiten des weiblichen Telegraphenpersonals chikanieren zu lassen.“
Es folgte ein Gerichtsverfahren wegen Beamtenbeleidigung. Das Schöffengericht verurteilte Post zu einer Geldstrafen von 20 Mark. Post legte gegen das Urteil Berufung ein und wurde nun freigesprochen. „Da dem Angeklagten geglaubt worden, daß er von der Wahrheit seiner Wahrnehmungen vollständig überzeugt gewesen, so habe er auch von Albernheit sprechen können, ohne die Grenzen des § 193 zu überschreiten. Junge Damen, auch wenn sie im Postdienste beschäftigt seien, lachen doch bekanntlich gern und würden leichter nervös als Männer, und wenn der Angeklagte dieser Erfahrung entsprechend das Wort ´Albernheit` anwandte, so sei daraus nicht die Absicht der Beleidigung zu schließen.“ So die Begründung des Gerichts im Berufungsverfahren.
1907 wurde der Telefonverkehr nach den nördlichen Vororten Berlins als mangelhaft bezeichnet. So war das Tegeler Amt so sehr überlastet, „daß es geradezu ein Zufall ist, wenn man auf den ersten Anruf Anschluß erhält… Hier (u. a. in Tegel) sind so wenig Leitungen vorhanden, daß die Telephon-Beamtinnen, wenn der Anrufer schließlich eine Viertelstunde vergeblich versucht hat, von Reinickendorf nach Tegel Verbindung zu bekommen, aus Mitleid den Anschluß über das Amt 1 Berlin herstellen.“
Kommen wir nun wieder zum Ortsporto zurück. Mehrfach war dies für die Tegeler Gemeindevertreter ein Tagesordnungspunkt ihrer Versammlungen. So im Juni 1906, nachdem die Postbehörde die Einbeziehung des Ortes in die Berliner Ortstaxe ablehnte. Das Gefängnis und die gesamte Bernauer Straße gehörten zum Ortsbereich, wie ja schon weiter oben berichtet, das Städtische Gaswerk hingegen nicht. Wer konnte das verstehen?
In der Gemeindevertretersitzung im Februar 1907 wurde bekannt, dass sich die Firma Borsig auf Veranlassung der Potsdamer Handelskammer bereiterklärt hatte, die Gemeinde Tegel bei der Bemühung zur Einführung der Ortstaxe zu unterstützen. Die Post hatte nach der letzten Tegeler Eingabe geantwortet, dass „auch nach nochmaliger Prüfung die Einführung nicht möglich sei“. Das Gefängnis, die Bernauer Straße und (nun immerhin auch!) die Berliner Gasanstalt seien „weit abliegende Ausbauten“. Dabei lagen doch die „Ausbauten“ näher an Tegel als an Reinickendorf. Eine neue Eingabe Tegels war vorgesehen mit dem Hinweis, dass Befürchtungen eines Umsatzrückganges nicht stichhaltig seien. Schließlich brachten ja jetzt schon fast alle Industriellen und die Gemeinde alle Briefe zum „Gefängnisbriefkasten“. Gemeindevertreter Borsig bat gar, in Zukunft den Empfang aller falsch frankierten Briefe abzulehnen, also kein Strafporto zu bezahlen.
Am 13.8.1907 waren die Tegeler Postkuriosa erneut ein Thema der Gemeindevertreterversammlung. Die Oberpostdirektion Berlin hatte eine Petition der Gemeinde Tegel abgelehnt, eine solche der Gemeindevertreter beim Staatssekretär war noch unbeantwortet. Doch auch sie ließ keinen Erfolg vermuten. Die Postbehörde wurde zu einer Lokalbesichtigung eingeladen.
Derweil war es weiter Tatsache, dass sich in Tegel die Briefboten der Postämter von Reinickendorf-West und Tegel auf ihren Wegen begegneten. Der aus Reinickendorf-West versorgte seinen oben genannten Bereich mit Post, wobei nun auch als besonderer Bestellbezirk die neuen Fabriken auf Borsigwalde-Wittenauer Gebiet gehörten. Jener aus Tegel hatte die Bewohner und Firmen des ganzen weiteren Tegel-Areals zu bedienen. Es kam aber auch vor, dass Briefe erst nach Tegel geschickt wurden, von dort aus über das Briefpostamt in Berlin (Königstraße) geleitet wurden und dann vom Postamt 39 nach Tegel (Bezirk Reinickendorf-West!) gelangten. Endlich, im Dezember 1910, meldeten dann verschiedene Zeitungen, dass zum 1.1. kommenden Jahres der Nachbarortsverkehr von Groß-Berlin voraussichtlich wieder eine Erweiterung erfahren würde.
So wurden u. a. die Vororte Tegel, Wittenau und Borsigwalde genannt. Briefe von Berlin dorthin und umgekehrt würden dann nur noch einem Porto von 5 Pfg. unterliegen. Tatsächlich wurde ab 1.1.1911 die Ortsbrieftaxe von Groß-Berlin u. a. auf die zuvor genannten Ortsteile ausgedehnt. Der „Gefängnisbriefkasten“ verlor damit seine Bedeutung. In der Auflistung der Tegeler Briefkästen (siehe oben) ist er nicht mit angegeben, weil er ja zum Postamt Reinickendorf-West gehörte.
Blicken wir nun noch in das Jahr 1913. Am 30.12. berichtete eine Zeitung über „Postalische Willkür. Ein Notschrei aus dem Norden“. Es betraf die Nachbarortstaxe und hier insbesondere Hermsdorf und Waidmannslust. Die Einwohner dieser Ortsteile ärgerten sich über Briefe, die mit einer blauen 15 oder 25 „verziert“ waren, der Briefträger also Nachporto erhob. Ein Brief bis zu 250 g kostete im Nachbarortsverkehr 5 Pfg. Porto. Doch die genannten Orte gehörten nicht zur Berliner Nachbarortsgemeinschaft, den baulichen Zusammenhang mit Berlin sah die Postbehörde nicht. Kurios war hingegen, dass Hermsdorf für ein Gespräch mit (nur) 10 Pfg. Kosten telefonisch zum Nachbarortsverkehr gezählt wurde, weil die Vermittlung durch das Amt in Tegel erfolgte.Die Kolonie „Freie Scholle“ gehörte kommunal zu Tegel, jedoch anfangs postalisch zu Waidmannslust. Als Tegel 1911 die Nachbarortstaxe bekam, bemühten sich die „Schollaner“ (erfolgreich) um eine postalische Einverleibung nach Tegel. Ein Brief bis 250 g nach Berlin konnte jetzt mit einer Briefmarke von nur 5 Pfg. frankiert werden. Ein Brief bis 20 g, in einen nur wenige hundert Meter entfernten Waidmannsluster Briefkasten eingeworfen, kostete 10 Pfg. Wog er 21 g, mussten gar 20 Pfg. bezahlt werden.
Als „schrankenlose Willkür“, so die Zeitung, beleuchtete sie zudem „einen besonders krassen Fall“. Damit war Tegelort gemeint. Einen baulichen Zusammenhang mit Tegel oder gar Berlin gab es hier ohne Zweifel nicht. Trotzdem galt hier die Nachbarortstaxe, „nur weil die Tegeler Briefträger zweimal täglich den Genuss haben, mit den Postsachen nach Tegelort und zurück zu pilgern.“
Soweit unser Rückblick in eine Zeit vor über 100 Jahren mit jenen postalischen Problemen, die die Einwohnerschaft von Tegel und Umgebung bewegten.