In heimatkundlichen Beiträgen wird gern über Tegeler Persönlichkeiten wie Borsig und Humboldt berichtet. Geht es um besondere Ereignisse, sind der Brand der Humboldtmühle, die Einweihung der Dorfkirche, des Hafens und der Industriebahn stets Themen, um nur wenige Beispiele zu nennen. Hingegen wird wenig über unspektakuläre Zeitumstände und Geschehnisse geschrieben, die vor über 100 Jahren mehr oder weniger zum Alltag der Dorfbewohner gehörten. Nachfolgend einige Notizen hierzu. Sie wurden chronologisch geordnet, stehen aber in keinem Zusammenhang zueinander.

Unwetter. Abends um 7 Uhr ging über Tegel ein Unwetter hernieder, wie es seit Menschengedenken kaum dagewesen war. Ab Reinickendorf war die Chaussee mit Ästen und Korngarben übersät, selbst höher gelegene Äcker standen unter Wasser. Hundertjährige Baumriesen entwurzelten oder zerbrachen in der Mitte. Das Dorf Tegel stand an der Chaussee unter Wasser. Zäune, Gartenhallen, Dächer hatte der Sturm vernichtet und weggeschleudert. Der Kirchplatz war zum Teil verwüstet. Das ganze Dorf bot ein unsäglich trauriges Bild. Juli 1885.

Revolver. Im Kreis Niederbarnim und somit auch in Tegel wurde bei der berittenen Gendarmerie der Revolver als Feuerwaffe eingeführt. Unter Abgabe der bisherigen „Sattelpistolen“ wurden einläufige Revolver mit einer Ladetrommel verausgabt, die 6 Ladekammern enthielten. Juli 1886.

Hundesteuer. Zwischen dem Berliner Magistrat und den Ortsvorständen verschiedener Vorort-Gemeinden wurde ein Abkommen über versteuerte „Luxushunde“ abgeschlossen. Hunde mit Steuermarken von Berlin durften danach z. B. nach Pankow gebracht werden, umgekehrt Pankower Hunde nach Berlin. In Tegel galt das Abkommen nicht. Vielmehr machte man hier einen wahren Sport daraus, den Berliner Ausflüglern ihre Hunde wegzufangen. Februar 1887.

Gebräuche. Beim Erntekranz ging der Festzug bei den Bauern und sonstigen Nachbarn herum. In Tegel gaben die Bauern immer noch ein paar Taler, die den Knechten und Mägden zugute kamen und verjubelt wurden. Früher kam mehr ein; Herr Egells auf dem Eisenhammer gab immer 25 Taler. Jetzt ist das Ganze mehr auf das Zusammenströmen der Berliner eingerichtet. Wer die letzte Garbe drosch, hatte den „Ollen“. Den schickte man in der Regel dem Bauern oder Wirt selbst zu, der dann 1 Quart Schnaps zum Besten geben musste. Auch wer die letzte Staude Kartoffeln buddelte, hatte den „Ollen“, musste aber nichts ausgeben. April 1887.

Maikäferplage. In einem Zyklus von etwa 4 Jahren traten in verschiedenen Orten massenhaft Maikäfer auf. In Tegel geschah dies zum Beispiel 1825 und 1829. In diesem Zusammenhang erlaubte die Königliche Regierung später das Sammeln von Maikäfern im Tegeler Forst. So wurde dafür in den Schulen zu Tegel, Hermsdorf, Glienicke und Heiligensee im Frühjahr für die Ober- und Mittelklassen der Vormittags-Unterricht verlegt. In Säcken gesammelte Käfer mussten täglich zwischen 8 und 10 Uhr in lebendem Zustand in den Förstereien Tegelsee oder Tegelgrund abgegeben werden. Der Preis für 1 Liter Käfer war auf 25 Pf. festgesetzt. Als beste Stunden zum Einsammeln der Maikäfer wurde in erster Linie eine Zeit zwischen 4 (!) und 8 Uhr morgens genannt. April 1891.

Pillendose der Humboldt-Apotheke aus dem Jahre 1904. Ein besonderer Apothekenservice. Der Besitzer der Apotheke in Tegel hat in Reinickendorf, Dalldorf, Waidmannslust und Hermsdorf Briefkästen oder besser gesagt Receptkästen angebracht, die zweimal täglich, Morgens und Abends, geleert werden. Mit der namentlich nicht genannten Apotheke war die damals erste und einzige in Tegel, die Adler-Apotheke, gemeint. Übrigens erschien die kurze Meldung im 1865 gegründeten amerikanischen Scranton Wochenblatt! Juli 1891.

Erntearbeiter. Die Insassen der „Arbeiterfilialcolonie“ in Tegel wurden in den letzten Wochen von den Landwirten der Umgebung zu Erntearbeiten verwendet. Ihre Aushilfe war sehr willkommen, da Erntearbeiter auch in diesem Jahr sehr knapp waren. August 1894.

Lohnerhöhung. In der Maschinenbauanstalt „Germania“ wurden, nachdem das Etablissement in den Besitz von Krupp überging, die Löhne erheblich erhöht. Die Arbeiter verdienten nun täglich bis zu 1 Mark mehr. September 1897.

Straßenlaternen. „In Tegel wird’s helle.“ So berichtete eine Zeitung, nachdem die Beleuchtungskommission der Gemeinde beschloss, im kommenden Winter die Hälfte der Laternen, insbesondere die sog. Richtlaternen, während der ganzen Nacht brennen zu lassen. Dabei dachte man besonders an die von und zur Arbeit gehenden Arbeiter. August 1902.

Waldschutz. Forstmeister Badstübner in Tegel richtete durch Anschlag an verschiedenen Stellen an alle Waldbesucher den „beherzigungswerthen Appel“, die Kulturen und Wiesen zu schonen, keine Zweige abzubrechen, kein Papier und keine Flaschen liegen zu lassen und das Rauchverbot zu beachten. September 1902.

Volksbibliothek. Im Kreis Niederbarnim gab es 53 Bibliotheken. Eine von ihnen, die in Tegel, hatte einen Bestand von gerade einmal 431 Büchern. August 1903.

Schulverhältnisse. In Tegel wurden 88,6 % der Gemeindesteuern für die Volksschulen aufgebracht. Zum Vergleich: In Berlin waren es nur 48 %. Während in Berlin durchschnittlich 47,8 Schüler eine Klasse besuchten, waren es in Tegel 49,04 Kinder. August 1905.

Nebeneinnahmen. Ein Mann fuhr bei der Tropenglut der Hundstage mit der Straßenbahn nach Tegel. In drangvoll fürchterlicher Enge erwischte er auf dem Hinterperron einen Stehplatz. Im Wageninnern lenkte da ein junger Bursche die Aufmerksamkeit auf sich und gab durch Zeichensprache zu verstehen, dass er gewillt sei, seinen Sitzplatz zu überlassen. Bevor er aber dem Mann „menschenfreundlich“ seinen Sitzplatz räumte, flüsterte er ihm zu: „Wenn se mir det Fahrjeld verjüten …“ Der Mann drückte ihm zwei Nickel in die Hand und war nun für die weitere Fahrt von 45 Minuten glücklicher Inhaber eines Sitzplatzes. Der „Gönner“ nahm draußen den Stehplatz des Mannes ein. Nach kurzer Zeit wurde wieder ein Sitzplatz frei. Flugs nahm ihn der Bursche ein, um ihn schon bald mit Blicken einem Herrn anzubieten, der so aussah, als würde er gern einen Fünfziger für einen Sitzplatz opfern. Das weitere Procedere muss nicht mehr beschrieben werden. Der junge Mann schien das lukrative Geschäft schon länger zu betreiben. August 1906.

Eisbeinessen. In Tegel war es üblich, den Mitgliedern der Freiwilligen Feuerwehr einmal im Jahr nach ihrer Vorstellung vor den Gemeindebehörden ein Eisbeinessen zu geben. Sozialdemokratische Gemeindemitglieder hielten es für unzulässig, hierfür Gemeindegelder zu verwenden. Sie änderten auch nicht ihre Meinung, als festgestellt wurde, dass am Essen teilnehmende Gemeindemitglieder ihren Anteil aus eigener Tasche bezahlten. Sie blieben aber in der Minderheit. Die „schöne alte Sitte“ blieb nach wie vor erhalten. November 1906.

Sparkasseneinbruch. Geldschrankknacker drangen in der Brunowstraße 8 in die dort befindliche Spar- und Darlehenskasse ein. Mit einem Nachschlüssel öffneten sie die Tür des Kassenlokals und „knabberten“ den schweren eisernen Geldschrank an. Mit einem Sauerstoffgebläse hatten sie bereits mehrere Rosetten des Behälters entfernt, als eine über den Bankräumen schlafende Frau durch Geräusche erwachte. Sie weckte den Verwalter und den Hauswirt, die sich bewaffneten und zum Erdgeschoss begaben. Die überraschten Einbrecher flüchteten und entkamen trotz Verfolgung im Dunkel der Nacht. Juli 1911.

Bootsunglück. Der Passagierdampfer „Hoffnung“, gefolgt vom Passagierdampfer „Prinz Joachim“, beide fuhren bei Dunkelheit auf dem Tegeler See unweit von Hasselwerder. Plötzlich ertönten Hilfeschreie. Beide Dampfer stoppten und unternahmen Rettungsversuche. Es stellte sich heraus, dass ein unbeleuchtetes, mit drei Personen besetztes Ruderboot gerammt wurde. Die Bootsinsassen hatten allerlei Allotria betrieben und waren wegen der Wellen bewusst auf die Dampfer zu gerudert. Nur ein Mann konnte gerettet werden, ein weiterer Mann und eine Frau büßten ihr Leben ein. August 1911.

Beim Friseur. Ein Zeitungsleser berichtete: Vor einigen Tagen betrat ich in Tegel einen Barbierladen. Der Meister schnitt einem Herrn die Haare. Der Gehilfe putzte während dem die Hängelampe. Ich nahm Platz und fragte den Meister, ob der Gehilfe mich nicht rasieren könne. Antwort: „Sie sehn doch, daß er jetzt die Lampe putzt.“ Auf meinen Einwand, ob denn nicht die Lampe außerhalb der Geschäftszeit geputzt werden könne, erhielt ich die Antwort: „Wenn Sie keine Zeit haben, brauchen Sie doch gar nicht erst hereinzukommen.“ Die Überschrift lautete: Der Ton in den Läden. August 1918.

Soweit unser Blick in die Tegeler Vergangenheit vor über 100 Jahren. Die Beispiele ließen sich mühelos ergänzen.

Gerhard Völzmann

Über eine Anekdote aus den 1850er-Jahren soll an dieser Stelle berichtet werden. Sie ist nur deswegen überliefert, weil ein Zeitungsleser seine Erinnerung an Alexander von Humboldt Jahrzehnte später einer Berliner Zeitung zum Abdruck schickte. Der Name des Mannes ist nicht bekannt. Nennen wir ihn hier einfach Otto Müller.

Müllers Eltern wohnten damals in der Chausseestraße nahe der Kesselstraße¹. Während der Sommerzeit passierte bei gutem Wetter regelmäßig eine einfache einspännige Kutsche, in der ein alter Herr saß, das Haus. Die gesamte Familie Müller kannte den Mann sehr gut. Es war nämlich Alexander von Humboldt, der von seiner in der Oranienburger Straße gelegenen Wohnung nach Tegel fuhr. Abends gegen 22 Uhr kehrte dann von Humboldt wieder nach Berlin zurück. Wenn Otto und andere Kinder auf der Straße spielten und sich der ihnen bekannte Wagen näherte, stellten sie das Spielen kurz ein und zogen ihre Mützen, während von Humboldt ihren Gruß mit einem freundlichen Kopfnicken erwiderte.

Humboldt-Schloss. Foto um 1930.

Es war ein Sonntag, als Ende Juni 1852 der damals 11 Jahre alte Otto zusammen mit seinem ein Jahr jüngeren Bruder und anderen Jungen zur Tegeler Heide ging, um Erdbeeren zu suchen. Anschließend besuchten sie noch (welche Entfernung von zu Hause!) den Humboldtschen Park in Tegel. Im Park, ganz in der Nähe des Schlosses, hielt sich ein barfüßiger Junge auf, der zwei Töpfe Beesinge² gesammelt hatte. Zwischen Ottos Bruder und diesem Jungen entwickelte sich ein Streit. Otto kam seinem Bruder zu Hilfe. Der immerhin mehrere Jahre ältere Junge wurde von den Brüdern kräftig durchgeprügelt. Zudem warf Ottos Bruder auch noch einen Topf nach dem Barfüßler, so dass die darin gesammelten Beeren zerstreut auf die Erde fielen. Der Junge fing laut zu weinen an, während die Jungen aus der Chausseestraße die Flucht ergriffen.

Ottos Bruder gelang es ja zu entkommen, doch er selbst stand plötzlich wie angewurzelt einem Mann gegenüber; es war Alexander von Humboldt. Der alte Mann fasste Otto am Ohr und fragte: „Warum habt ihr Schlingel dem armen Jungen die Beeren ausgeschüttet?“ Dabei hielt er den 11-Jährigen solange fest, bis dieser seinen Namen und die Anschrift der Eltern verraten hatte. Nun kam auch der um seine Beeren gebrachte Junge näher. Von Humboldt ließ jetzt Ottos Ohr los, griff in seine Tasche und gab dem noch immer wegen seiner fehlenden Beeren lamentierenden Jungen sechs Dreier. Auch er sollte seinen Namen und seine Wohnung sagen. Nun entließ von Humboldt die Kinder mit der Ankündigung, dass Ottos Eltern von der geschilderten „Unart“ erfahren würden.

Am nachfolgenden Tag spielten Otto und sein Bruder im Garten des häuslichen Anwesens. Plötzlich wurden die Brüder in die Wohnung gerufen. Schon beim Betreten der Stube war den beiden Jungen klar, „was die Glocke geschlagen hatte“. Vater Müller hatte nämlich den beiden Kindern nur zu gut bekannten „Kantschu(h)“³ in der Hand. Eine gehörige Tracht Prügel folgte. „Euch Lümmels werde ich für eure Niederträchtigkeit, armen Kindern die Beerentöpfe zu zerschlagen, das Fell mürbe machen!“, so der Vater. Zuvor hatte Alexander von Humboldt ganz spontan einen Brief geschrieben, in dem er Müller von der Ungezogenheit seiner Söhne unterrichtete. Den verhängnisvollen Brief hatte der „alte Seifert“ überbracht. Johann Seifert war über 30 Jahre Diener und Vertrauter Alexander von Humboldts.

Gerhard Völzmann

¹ Heutige Habersaathstraße.
² In Berlin einstige Bezeichnung für Heidelbeeren, Blaubeeren.
³ Riemenpeitsche

Der landeseigene Friedhof Am Fließtal in Tegel

Gräberreihe 4, Friedhof Am Fließtal, Foto: M. Schröder

Für einen anzulegenden Friedhof Am Fließtal entwarf das renommierte Architektenduo Fehling und Gogel bereits 1968 die Feierhalle samt zugehörigen Verwaltungs- und Wirtschaftsgebäuden. Und – gemäß den von ihnen hinterlassenen Unterlagen – auch den Plan für einen Landschaftsfriedhof:

Aus dem Nachlass der Architekten im online-Archiv Fehling und Gogel des Schweizerischen Architekturmuseums
http://www.fehlingundgogel.de/friedhofskapelle-tegel/, abgerufen 26.08.18

Merkwürdigerweise bestreitet die Friedhofsverwaltung in der offiziösen Broschüre von 2006 „Der Friedhofswegweiser Berlin-Reinickendorf“ (Hg. Mammut-Verlag in Zusammenarbeit mit dem Bezirksamt Reinickendorf von Berlin, Leipzig 2006), dass es jemals das Vorhaben eines „Landschaftsfriedhofs“ gegeben habe, ja sie behauptet sogar, dass die Planung der Architekten eine „architektonisch gestaltete Friedhofsanlage“ vorgesehen habe, so ist es auch heute noch auf der Website des Bezirksamtes zu lesen. https://www.berlin.de/ba-reinickendorf/politik-und-verwaltung/aemter/strassen-und-gruenflaechenamt/gartenbau/friedhofsverwaltung/friedhoefe/artikel.87893.php, abgerufen 26.08.18
„Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass von Anfang an dieser Friedhof als ein Zweckfriedhof (Hervorhebung im Original) geplant wurde.“ (Broschüre S. 28) Und zwar sowohl von den „auftraggebenden Behörden“ als auch von den „ausführenden Architekten“.

Was ist das denn – ein Zweckfriedhof? Ist nicht der Zweck jedes Friedhofs, dass man auf ihm verstorbene Menschen bestatten kann – egal, wie er gestaltet wurde? Oder ist „Zweckfriedhof“ ein verwaltungstechnischer oder ein juristischer Begriff, der sich dem Laien nicht auf Anhieb erschließt? Wikipedia verfügt über keinen entsprechenden Eintrag.
Jedenfalls klingt Zweckfriedhof nach billiger Entsorgung ärmerer Bevölkerungsschichten und nach siebzehntem Jahrhundert, auch wenn es solche Begräbnisstätten durchaus noch im neunzehnten Jahrhundert gab. Aber schon Mitte des achtzehnten Jahrhunderts entstanden Pläne für eine landschaftliche Gestaltung von Friedhöfen. Hinter diesen Fortschritt wollte das Bezirksamt zurückfallen?

Im Berliner Friedhofsgesetz von 1995 findet sich keine Festlegung auf einen der beiden Begriffe: „Friedhöfe sind Grünanlagen mit besonderer Zweckbestimmung. Sie sind Teil des städtischen Grüns“, heißt es in Paragraf 2. Demnach scheint sowohl ein grüner „Zweckfriedhof“ als auch ein Landschaftsfriedhof möglich zu sein.
Für eine nüchterne Broschüre polemisiert die Friedhofsverwaltung Reinickendorf in der genannten Veröffentlichung von 2006 auffällig gegen den angeblich ja nie angedachten Landschaftsfriedhof. Welcher Streit ging dieser Polemik voraus? Und warum bezieht sich die Verwaltung ausdrücklich auf die Planung von Fehling und Gogel auch für die Außenanlagen, obwohl der Plan der Architekten nach deren Bekunden nicht ausgeführt wurde?

„Die Architekten Fehling und Gogel planten, eine Sichtachse von der Kapelle bis ins Fließtal zu schaffen. Diese Sichtachse wurde als Mittelachse des Friedhofs angelegt.“ (S. 28)

Die heutige Mittelachse hat tatsächlich nichts mit der Planung von Fehling und Gogel zu tun: Nach deren Vorstellungen sollte ein Weg in Richtung Fließ sich in der Mitte verengen und an beiden Seiten von Bäumen gesäumt sein, von dieser Engstelle aus hätte sich der Weg dann zum Fließ hin geweitet. Gerade die Engführung war wichtig, um den Eindruck einer weiten, kahlen Fläche zu vermeiden. Genau so aber ist die Mittelachse realisiert worden, die jetzt eher an eine Ödnis erinnert, wenn man es gutwillig betrachtet: an eine vielleicht unter Gesichtspunkten des Naturschutzes wertvolle Trockenrasenfläche. Nur ein Schild gemahnt daran, dass diese Fläche – wie auch andere – als Urnengemeinschaftsgrabanlage genutzt wird.

Lediglich am Anfang der Mittelachse steht als Schmuck die fast schon monumentale Skulptur von Paul Brandenburg, die vermutlich dem öden Eindruck der kahlen Mittelfläche entgegenwirken soll.

Breite Mittelfläche mit Skulptur, Foto: M. Schröder

Der Bruch mit der Architektenplanung zeigt sich auch bei der Anlage der Grabfelder. Fehling und Gogel hatten vielfältig geschwungene Erdwälle als Unterteilungen vorgesehen, die ein lebendiges Bild ergaben. Nichts davon ist heute zu sehen. In strammer Ordnung gehen gerade Seitenwege von der Mittelachse ab, lediglich durch einen Knick aus der Kasernenhofordnung gebracht.

Seitenweg zur Erschließung der Gräberfelder, Foto: M. Schröder

Ein Pedant scheint hier am Werk gewesen zu sein, er muss die lebendigen Schwingungen der Architekten gehasst haben. Man mag einwenden, dass rechteckige Grabfelder und lineare Wegführungen nun einmal zeit-, platz- und kostensparend sind. Aber wenn die geometrische Anordnung die Anmutung der Landschaft stört, läuft sie dem Zweck des Friedhofs zuwider: als Ort der Erinnerung, der Trauer, des Nachdenkens zu dienen.

Jedenfalls sind bei der Planung und Ausführung des Friedhofs Am Fließtal zwei entgegengesetzte Auffassungen, ja Weltanschauungen aufeinandergeprallt. Durchgesetzt hat sich ein Ordnungsfanatiker, der uns einen kastrierten Friedhof hinterlassen hat: Gräber in Reih und Glied, alleeartig gesäumte Seitenwege, einem militärisch geprägten Preußen angemessen, aber nicht einer modernen Großstadt mit urbanem Lebensgefühl und Sinn für einen beschwingten, naturnahen Friedhof. Als hätte es nie einen Südwestkirchhof Stahnsdorf von 1909 gegeben!

Meinhard Schröder

Wilhelm von Humboldts Sonett „Die Eiche“. Abbildung: Stamm der „Dicken Marie“.

Kennen Sie „Mutter Dossen“? Ganz bestimmt! Damit ist nämlich Berlins ältester Baum, die „Dicke Marie“ gemeint. „Mutter Dossen“ war eine im 19. Jahrhundert gebrauchte, heute kaum noch bekannte volkstümliche Bezeichnung für die Eiche, die am westlichen Ufer des Tegeler Sees in Höhe der Malche nahe dem parallel zum Wasser verlaufenden Rad- und Fußweg steht. Der älteste Baum Berlins ist etwa 800 (?) Jahre alt, hat eine Höhe von ca. 26 m, einen Durchmesser von 2,10 m und 6,65 m Umfang in Brusthöhe.

Zu immer wieder unterschiedlichen Angaben über das Alter des Baumes wird bemerkt, dass 1890 bei einer in unmittelbarer Nähe der Dicken Marie infolge Windbruchs eingeschlagenen Eiche gleichen Maßes 470 Jahresringe gezählt wurden. Der innerste, etwa 10 cm messende Kern des Stammes war derart dicht und schwarz, dass die Ringe nicht weiter gezählt werden konnten Daher wurde die Dicke Marie in einem Bericht aus dem Jahre 1906 „ziemlich sicher“ auf 500 Jahre geschätzt. Heute wäre die Dicke Marie mithin „nur“ gut 600 Jahre alt.

Nicht weit von der „Dicken Marie“ entfernt steht im Schlosspark ein weiterer historischer Riesenbaum. Es ist ebenfalls eine Eiche, die den Namen Humboldteiche trägt. Ihr Alter dürfte, zurückhaltend geschätzt, nicht unter 400 (?) Jahre betragen. Im Jahre 1888 hielt Dr. Carl Bolle (Scharfenberg) anlässlich der vierten Arbeitssitzung im 24. Vereinsjahr des Vereins für die Geschichte Berlins einen Vortrag über die Humboldteiche. Er sagte u. a., dass der Baum eine merkwürdige Ausnahme von dem Schweigen bilde, das man sonst bei Wilhelm und noch mehr bei Alexander von Humboldt bezüglich der benachbarten Landschaft finde. Bolle verlas das Sonett Wilhelm von Humboldts auf die Eiche und bemerkte, dass sich sein Verhältnis zu derselben „als ein Gemisch der Gefühle von Baumcultus und und persönlicher Scheu bezeichnen lasse, während für Alexander die Bank unter der Eiche stets ein Lieblingsplätzchen gewesen sei. Der mächtige an der Eiche emporwachsende Epheu sei erst 1837 durch General von Hedemann, Schwiegersohn Wilhelm von Humboldts, gepflanzt worden“. Anschließend ging der Botaniker allgemein auf die Tegeler Eichenpflanzungen ein, um dann „Mutter Dossen“ bzw. die „Dicke Marie“ mit der „Humboldteiche“ zu vergleichen. Danach hatte der erstgenannte Baum damals einen Umfang von 5,39 m und eine Höhe von 40 Fuß1. Der Umfang des anderen Baumes lag bei 5,32 m, er war mit 60 Fuß wesentlich höher.

Sonette von C. Bolle, gedichtet 1878 und 1900.

Aus dem Jahre 1899 ist über die Humboldteiche folgendes überliefert:
Zu den historisch interessanten Bäumen in der Umgebung Berlins zählt, wie die `National-Zeitung´ berichtet, die über 800 Jahre alte Humboldt-Eiche am Tegeler Schloßpark unfern des Schlosses, des einstigen Tuskulums Alexanders v. Humboldt. Die isolierte Stellung mit viel Luft und Licht begünstigte ihre riesige Entwicklung im Laufe der Zeit. Schon wenige Meter über der Erde gliedert sich der Stamm in einen wahren Wald von Ästen vom Durchmesser mittlerer Bäume, welche die gewaltige Krone bilden. Das Gewicht der Nebenäste, Zweige und Belaubung beugt die Hauptäste zur Erde nieder. An der Südseite sind die untersten gestützt worden, um zu verhindern, daß sie in das Erdreich hineinwuchsen. Sie bilden mit den Stützen und dem an ihnen sich aufrankenden wilden Wein eine Art Vorhalle an dem alten Baumriesen. Weiter hinauf mußten mehrere Äste, weil morsch und brüchig, abgesägt werden, andere rissen Stürme herab. Der vom Stamme in die Krone aufstrebende Epheu ist leider an der Nordseite teilweise erfroren; aber trotz alledem bietet der kraftstrotzende, stolze, ernste Baum doch immer noch einen erhebenden Anblick, Die kurzgestielten, fast sitzenden Blätter, die langstieligen Früchte, der regelmäßige Laubfall charakterisieren ihn als Sommer- oder Stieleiche, Quercus pedunculata, im Gegensatz zu Q. sessiliflora, der Winter-, Stein- oder Traubeneiche mit sitzenden Früchten und langgestielten Blättern.

Ein weiterer besonderer Baum befindet sich im Tegeler Forst zwischen Konradshöher und Sandhauser Straße . Es ist eine Europäische Lärche, die um 1795 zu einer Zeit gepflanzt wurde, als Forstrat Burgsdorf in Tegel wohnte und hier auch tätig war. Die nach ihm benannte Lärche hat einen Stammumfang von etwa 3 m, ist aber insbesondere mit einer Höhe von ca. 45 m Berlins höchster Baum.

Die Humboldteiche um 1910. Im Hintergrund das Schloss.

Blicken wir nun in jene Straße, die einst Dorfstraße und dann Hauptstraße hieß, heute ist sie unter dem Namen Alt-Tegel bekannt. In Höhe der Dorfaue befand sich eine längst nicht mehr vorhandene Linde, die durch ihren merkwürdig gewachsenen Stamm je nach Betrachter Krumme oder auch Kamelslinde genannt wurde. Andere sahen in der Form des Stammes die Gestalt eines aufgerichteten Bären oder die eines „schön machenden“ großen Hundes. Auf diesen Baum soll hier im Hinblick auf einen bereits zuvor verfassten kleinen Artikel nicht näher eingegangen werden.
Kommen wir jetzt zu einem fünften Baum, über den in der jüngeren Vergangenheit kaum etwas geschrieben wurde. Auch hier kann ein Name genannt werden. Gemeint ist wiederum eine Eiche, und zwar die Tegeler „Friedenseiche“. Derartige Bäume wurden in vielen Orten Deutschlands nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 gepflanzt. Als Tag zum Pflanzen einer Friedenseiche wurde gern der Geburtstag Kaiser Wilhelms (22.3.) oder der Sedantag (2.9.) gewählt. Wann die Tegeler Friedenseiche gepflanzt wurde, ist nicht eindeutig bekannt; vermutlich geschah dies am 22.3.18742. Die Initiative hierfür lag beim örtlichen Kriegerverein.

1884 sollte der Baum durch ein „geschmackvolles“ eisernes Gitter umfriedet werden. Zudem war anlässlich des Kaiser-Geburtstages ein festlicher Umzug der Tegeler Vereine geplant. Am Abend war eine wohl mit Fackeln vorgesehene festliche Beleuchtung der Eiche und des Gitters geplant.

Am Morgen des 21.3.1884 erschien der mit der Arbeit beauftragte Schlossermeister mit seinen Gesellen, um das Gitter aufzustellen . Dabei wurde dann aber die traurige Feststellung gemacht, dass in der vergangenen Nacht der Stamm der Eiche mittels einer Stichsäge ringförmig eingeschnitten wurde. Der Einschnitt kurz über dem Erdboden war so tief, dass die Eiche ohne Zweifel eingehen musste. Nur ein Sachverständiger konnte diesen Frevel begangen haben. Schnell glaubte man, dem Täter bereits auf der Spur zu sein. Für den Feiertag aber musste schleunigst an derselben Stelle eine neue Eiche gepflanzt werden. Die Festfreude aber war verdorben. Für den (neuen) Baum ist jedoch das Datum 22.3.1884 damit genau überliefert.

Tegel um 1800. Im Vordergrund zwei uralte Bäume, der rechte beschädigt durch Sturm und/oder Blitzschlag.

In der Folgezeit richteten sich schnell alle Augen auf den Tischlermeister Albert Bacher als den vermutlichen Täter. Es kam zu einem Gerichtsverfahren gegen ihn. Die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung belastete ihn schwer. Bacher war Mitglied, ja sogar Mitbegründer des Tegeler Kriegervereins, in dem er aber schon vor zehn Jahren wegen seiner Unverträglichkeit ausgeschlossen wurde. Seitdem wurde er zehnmal wegen Beleidigung, Körperverletzung, groben Unfugs usw. verurteilt. Schon bei der Pflanzung der Eiche vor wohl 10 Jahren soll er sich anderen Personen gegenüber höhnisch geäußert haben, dass der Baum nicht alt werde. Daraufhin wurde die Friedenseiche in den ersten Jahren Tag und Nacht bewacht, bis die Aufmerksamkeit mit der Zeit aufhörte. Am Tag vor dem Aufstellen des Gitters arbeitete der nun Angeklagte ganz in der Nähe und erkundigte sich noch, wann die Gitter-Arbeiten erfolgen sollten. Bei seinen Arbeiten verwendete er eine starke Stichsäge, wie sie augenscheinlich auch bei der Beschädigung des Baumes gebraucht wurde. Bei einer bei Bacher vorgenommenen Hausdurchsuchung wurde eine Stichsäge vorgefunden, deren Schnitt genau in den Stamm der Eiche passte. War damit Bacher durch Indizien der Tat überführt? Der Staatsanwalt bejahte diese Frage und beantragte drei Monate Gefängnis und ein Jahr Ehrverlust. Dem Gerichtshof reichten die Indizien nicht aus, den im übrigen auch leugnenden Angeklagten zu überführen. Es wurde auf Freisprechung erkannt.

Dr. Bolle 1904 unter der (erst) 33 Jahre alten Douglastanne.

Bisher wurde der Standort der Friedenseiche nicht erwähnt. Sie wurde auf dem großen Kirchplatz gepflanzt, also auf der Dorfaue. Doch wo genau? Bis Ende 1874 war die Dorfkirche von einem Begräbnisplatz umschlossen. Später entstanden hier gärtnerische Anlagen. Blickt man vom Kirchenportal aus in Richtung Eisenhammerweg, so befindet sich dort das 1934 errichtete Kriegerdenkmal (damals noch mit einem Löwen versehen), das heute durch zusätzliche Inschrift den Opfern von Krieg und Gewalt gewidmet ist. Nur wenig hinter diesem Denkmal zum Straßenrand hin befindet sich eine kräftige Eiche. Sollte dies die Friedenseiche sein? Hinweise sind nicht vorhanden. Vielleicht lässt sich die Frage aber später noch beantworten.

Kommen wir noch zu einem erwähnenswerten Baum, der heute wohl nicht mehr in Tegel vorhanden ist. Im Jahre 1905 berichtete eine Zeitung in einem Artikel unter der Überschrift „Mutterbäume“ über uralte Bäume mit besonders auffälligen Eigenschaften. Gemeint waren solche mit abnormer Ast- und Zweigstellung wie auch Laubfärbung. Andere jüngere Bäume mit denselben Eigenschaften sollen von ihnen abstammen. Anormal bezüglich der Belaubung sind Blutbuchen. „Eine mittelwüchsige Blutbuche mit intensiv dunkelroten Blättern steht bei der Tegeler Humboldtmühle“, so der Hinweis in dem Zeitungsartikel. Weiter wurde bemerkt: „Alle diese Blutbuchen sind Spielarten der Rotbuche und stammen nach Bechstein3 von einer uralten Blutbuche Thüringens in der Nähe von Sondershausen als Mutterbaum ab.“ Im Gegensatz zu den weiter oben beschriebenen Bäume ist ein besonderer Name dieser Tegeler Blutbuche nicht überliefert.

Zum Schluss unserer Betrachtungen werfen wir noch einen kurzen Blick auf Scharfenberg. Die Insel war von 1867 an im Eigentum von Dr. Carl Bolle, der hier eine „botanische Idylle“,
einen „dendrologischen Garten“ schuf. Im Park wuchsen (1881) mehr als 1200 verschiedene, bei uns ausdauernde Gehölze. In besonders ummauerten Gruben gedeihten mit Feigen, echtem Jasmin, japanischem Bambus, Myrte und Lorbeer auch Gewächse südlicher Zonen. Eichen, (japanische) Tannen, Lärchen, Koniferen, Kastanien, eine schön gewachsene „Wellingtonia gigantea“ (kalifornischer Riesenbaum) gehörten zum Bestand Scharfenbergs. Besonders zu erwähnen ist noch eine 1871 von Bolle gepflanzte, schnell mehrere 30 Fuß hoch gewachsene Douglastanne, die höchste der einst in der Mark vorhandenen. Die Insel diente aber leider auch eine Zeitlang ungewollt als „Kugelfang“ für den nahen Schießplatz.

Sonett Bolles über eine Ulme, die auf Scharfenberg stand. Mai 1891.

Gerhard Völzmann

Alexander von Humboldt

Die kleine Episode aus dem Leben Alexander von Humboldts (1769-1859), über die hier zu berichten ist, wurde bereits vor fast 140 Jahren mit dem Hinweis auf Informationen „von höchst glaubwürdiger Seite“ aufgeschrieben. Alexander von Humboldt wurde bekanntlich am 14.9.1769 in der Berliner Jägerstraße 22 geboren. Von 1842 bis zu seinem Tode wohnte der Freiherr, Königliche Kammerherr, wirkliche Geheime Rath, Mitglied des Staatsraths und der Academie der Wissenschaften (so der Eintrag im Adressbuch) in den Wintermonaten in der Oranienburger Straße 67 (im Sommer weilte er zumeist in Tegel). An einem rauen Oktober-Nachmittag in den 1840-er Jahren war von Humboldt, vom Spittelmarkt in Berlins Mitte kommend, auf dem Nachhauseweg. Am Mühlendamm passierte er „das Reich der alten Kleider“. Hier gab es viele Trödler und Kleiderhändler, die geschäftstüchtig Passanten ansprachen, so auch vielleicht wegen seines unscheinbaren Äußeren Alexander von Humboldt. „Papachen, wie steht´s mit ´nem Winterrock?“ – „Kommen sie rein! Det reene Eisentuch“, rief ein anderer. „Ein schöner mottenfreier Pelz, erst einen Winter getragen, passt wie angegossen“, versuchte ein dritter Händler den alten Mann zu überzeugen. Ein weiterer Geschäftsmann, besonders eifrig, hielt von Humboldt am Rock fest. Beredt wollte er ihm eine grüne Samtweste verkaufen. Der so Angesprochene schüttelte den Kopf und wollte eigentlich weitergehen. Doch da fiel sein Blick auf einen Kramstapel im Schaufenster. Zuunterst lagen zwei lange, mit Perlmutt ausgelegte Reiterpistolen, die sich bei näherer Betrachtung als altertümlich und kunstvoll herausstellten. Von Humboldt wollte sie für seine Waffensammlung erwerben und fragte nach dem Preis. „Was werden sie geben für diese schönen Pistölchen?“, so die Gegenfrage des Händlers. „Sagen wir 10 Thaler.“ Der Trödler überlegte. „Will ich mal ausnahmsweise nichts dran verdienen. Neun Thaler haben sie mir selbst gekostet; Reparaturkosten und Zinsen dazu gerechnet, macht´s gerade zehn Thaler.“ Man war sich einig. Von Humboldt legte zwei Friedrichsdor1 auf den Ladentisch, erhielt noch Restgeld und die inzwischen in Papier eingewickelten Pistolen und verließ den Laden. Über die Spandauer Straße und den Hackeschen Markt ging er nun in Richtung Oranienburger Straße.

Unterwegs fiel sein Blick zufällig auf das zum „Emballieren“ verwendete Papier. Er machte dabei eine interessante Entdeckung. Es war ein Blatt aus einem alten „Kräuterbuch“. Diese wurden in Form von großen Folianten von Ärzten und Naturforschern im Mittelalter herausgegeben. Solche „Kräuterbücher“ hatten insofern einen großen Wert, als sie über den damaligen Stand der botanischen Wissenschaft hinsichtlich Anwendung der Pflanzen im Haushalt der Menschen, in der Technik, Medizin usw. Aussagen vermittelten. Für den Naturforscher und Gelehrten stand es fest, ein solches Buch vor dem Untergang zu bewahren. Eiligst kehrte von Humboldt um. Doch am Mühlendamm sah ein Laden wie der andere aus. Wie sollte er nur den richtigen wieder ausfindig machen? Stets war ein „Nein“ die Antwort, wenn von Humboldt fragte, ob er dort die Pistolen gekauft hatte. Eigentlich war das auch zu erwarten. Man hielt ihn für einen beim Kauf Reingefallenen, der den Erwerb wieder rückgängig machen wollte. Schon aus „Korpsgeist“ heraus wollte kein Trödler einen zutreffenden Namen nennen. Schließlich kam der Naturforscher auf eine listige Lösung, indem er zu den zunächst Umstehenden sagte: „Schade, daß ich den Mann nicht finden kann, ich wollte ihm nur einen Thaler zurückbringen, den ich vorhin zuviel herausbekommen habe.“ – „Kommen Se ´rein, hier bei mir haben Se gekauft,“ erscholl es nun von allen Seiten. Aus allen Läden stürzten Händler heraus, vielleicht zwanzig Hände zerrten an seinem Rock, ein Höllenlärm entstand. Von Humboldt sah sich in Bedrängnis und hob die beiden zuvor gekauften Pistolen drohend in die Luft. Das half; im Nu stob die Trödler-Schar auseinander. Nur einer blieb stehen, lächelte und meinte: „Sind se doch nicht geladen, Papachen! Stecken Se doch die Donnerbüchsen in und geben Se mir meinen Thaler!“ Damit war also der richtige Verkäufer gefunden.

Zusammen gingen sie in das dunkle Gewölbe des Händlers. Hier verlangte von Humboldt das Buch zu sehen, aus dem das Blatt als Packpapier herausgerissen wurde. Bei näherer Betrachtung war dies ein in Schweinsleder gebundenen Foliant, dem am Ende nur wenige Blätter fehlten. Der Trödler hatte das Buch mit anderem Kram zusammen auf einer Auktion gekauft. Es gehörte zu den seltensten seiner Art. Nach dem Preis für das Werk gefragt, überlegte der Händler lange. Dann nahm er eine Hose mit eingesetztem Boden aus dem Regal und antwortete: „Geben sie mir vier Thaler und die schöne Hose kriegen sie mit dazu. Mit der können sie noch Sonntags Staat machen!“ Das Geschäft kam so zustande, allerdings verzichtete der Gelehrte auf die Zugabe.

Wenn Alexander von Humboldt später im Freundeskreis seine Büchersammlung zeigte, dann erwähnte er stets den kuriosen Buchkauf und schloss mit den Worten: „Am meisten hat mich die Bemerkung amüsiert: Mit der können Sie noch Sonntags Staat machen.“

Gerhard Völzmann

1 Preuß. Goldmünze; ein Friedrichsdor = 5 Taler.

Nachdem in den vergangenen Ausgaben des Blickpunkt Tegel die Schiffe der Stern und Kreisschiffahrt, die Feengrotte und die Berlin vorgestellt wurden, folgt nun das letzte der sechs, aktuell auf dem See eingesetzten Schiffe, die ab der Greenwichpromenade ihre Fahrt anbieten.

Der neu erbaute Schleppdampfer Werner vor der Wiemannwerft in Brandenburg. Das Werkstattgebäude ist heute noch erhalten, dient aber nicht mehr dem Schiffbau.

Mit dem Schiff Reinickendorf wird auch ein sehr interessantes Schiff vorgestellt, das einmal als Schleppdampfer sein Schiffsleben begann. Als Werner wurde das Schiff 1914 auf der Wiemann Werft, der wohl bekanntesten Schiffswerft Brandenburgs unter der Bau Nr. 185 als Schleppdampfer erbaut. Mit einer Länge von 31,92 m gehörte es zu den großen seiner Gattung. Eine 3 Zylinder Dampfmaschine mit einer Leistung von 175 PS gab dem 5,87 m breiten Schiff den Antrieb.

Der erste Eigner des Schiffes war Heinrich Kanter aus Berlin –Neukölln. Das Fahrgebiet war aber nicht Berlin, sondern die Elbe, wo der große Schlepper mit seinem jeweiligen Anhang von Magdeburg bis Hamburg in Fahrt war. Folgerichtig wechselte der Werner dann auch sein Heimatort und Eigner. Ab 1915 gehörte das Schiff zur bekannten Magdeburger Reederei Julius Krümling. Eine Namensänderung, wahrscheinlich des Krieges wegen, folgte erst 1918. Bis 1930 war das nun Tirpitz genannte Schiff bei der Reederei, die ab 1925 unter Reederei AG, vormals J. Krümling, Magdeburg firmierte. 1930 waren nacheinander Ernst Runge aus Hamburg und die NNVE (Neue Norddeutsche und Vereinigte Elbschiffahrtsgesellschaft, Hamburg/ Dresden) die Eigner des Schleppers, bevor er 1931 von Franz Betzin aus Zerpenschleuse erworben wurde. Nun war es Berlin näher gekommen, aber Fahrgäste transportierte es deshalb noch nicht. Erst kurz vor Ausbruch des 2. Weltkrieges wurde das Schiff, leicht umgerüstet, auch aushilfsweise als Fahrgastschiff eingesetzt. Nach dem Krieg 1946 wurde der Schlepper, der als solcher nun nicht mehr gebraucht wurde, zum Fahrgastdampfer umgebaut. Die Schleppeinrichtungen wurden abgebaut und an Bord mehr Platz geschaffen. Mit seinen neuen Aufbauten war es nicht mehr als Schlepper zu erkennen.

Die Rheingold um 1953 in Charlottenburg.

Als Rheingold kam das Schiff 1947 dann in Fahrt. Eine großartige Ausflugsschifffahrt gab es so kurz nach dem Krieg noch nicht, aber Einsatzmöglichkeiten gab es dennoch. Mit Hamsterfahrten mit dem Schiff, die als Entlastung der Bahn durchgeführt wurden und öffentlichen Aufträgen wie der BVG Schifffahrt auf dem Wannsee ließ sich der Rheingold einsetzen. Seine Hauptabfahrtstelle befand sich zuerst am Amtsgericht Charlottenburg, wo heute das Motorschiff Kreuz As liegt. Bis mindestens 1953 machte der Rheingold ab Schlossbrücke mit bis zu 300 Fahrgästen seine Rundfahrten zur Pfaueninsel. Ab Mitte der fünfziger Jahre wurde das Schiff nicht mehr eingesetzt. So konnte Walter Haupt, der auf Hasselwerder wohnte, das Schiff erwerben. Da der Salon sehr niedrig war, sah der Dampfer in seinen Proportionen noch größer aus als er tatsächlich war. Durch einen Umbau konnte er etwas geräumiger werden. Die Salonhöhe war nicht der einzige Grund für den Umbau. Aus dem Dampfer wurde ein Motorschiff. Mit einem Sonnendeck und mit einem Fassungsvermögen von 450 Fahrgästen, kam es 1958 als MS See-Haupt wieder in Fahrt. Die Anregung für den Namen brachte Walter Haupt von einer Reise nach Bayern mit, als er das 1955 neu erbaute Motorschiff Seeshaupt auf dem Starnberger See sah. Ohne „s“ hinter dem See wurde ein kleines Wortspiel daraus. Bis 1968 war Haupt „der Admiral vom Tegeler See“ mit dem Schiff verbunden, dann bildete es den Grundstock der Reederei Bethke von Gertrud und Mathias Bethke, die die See-Haupt vom Vater Gertrud Bethkes erwarben. 1973 bekam es nach einem kleinen Umbau den Namen Reinickendorf und 1979 einen neuen Eigner. Nun war Alfred Turczer der neue Eigner, er unterzog das Schiff einer Verjüngungskur (Umbau Kastenheck) und setzte es auf den bisherigen Kurs in enger Zusammenarbeit mit der Reederei Bethke ein. Mathias Bethke, Alfred Turczer und der Gastwirt Peter Dannenberg gründeten 1984 die Tegel-Heilgenseer Personenschiffahrtsgesellschaft b.R. zu deren Gründungsinitiatoren noch Günter Taube gehörte, der aber an der Gründung nicht mehr teilnahm. Diese Firma bestand kurze Zeit. Nach einem weiteren Umbau veränderte das Motorschiff sein Aussehen erheblich. Neben dem runden Heck verschwand nun auch der schöne gerade Wiemannsteven (Bug).

Oben: Nach dem zuerst das runde Heck gegen ein Kastenheck ausgetauscht wurde bekam das Schiff auch einen neuen Bug. So sieht das Schiff heute aus. Unten: 1966 als Motorschiff See-Haupt, deutlich erkennbar der gerade Bug

Mit der neuen Erscheinung sollte die Reinickendorf modern aussehen, schade eigentlich. Seit 1988 gehört das Schiff wieder zur Reederei Bethke. Ab nun war es bei allen Mitgliedern der Familie Bethke in Fahrt, so 1991-1996 Reederei Bethke, 1997 Reederei G. Bethke, Reederei G. Bethke/ Prause/ Unger, Reederei Unger, 1998-1999 Reederei Unger, 2001-2002 Reederei M. Bethke/ Prause, 2003-2006 Reederei Mathias Bethke, 2007 Reederei M. und S. Bethke, 2010 Reederei Simone Prause. 2017 wurde des Schiff von Mathias Bethke gesteuert, der übrigens 1990 Vereinsmitglied und Förderer Sport-Club Tegel 1919 e.V. war. Neben seiner Karriere als Schleppdampfer, einem reinen „Arbeitsleben“ und als Fahrgastschiff erlebt so ein Schiff auch sonst so einiges. So trieb es 1977 führerlos auf dem See, Grund dafür war grober Unfug, als das Schiff losgemacht wurde. Ärgerlicher war eine Grundberührung vor der Lieper Bucht. Erst nach 17 Stunden konnte das Schiff nur mit Hilfe der „Hanseatic“ der Reederei Winkler und einem Feuerlöschboot wieder flott gemacht werden. Eine Massenkeilerei war 2012 zu überstehen, als eine Person mit Kreislaufproblemen am Anleger Friederickestraße dem Arzt übergeben werden sollte. Von den 160 Fahrgästen an Bord fingen um die 80 eine Rangelei an, ein Mann fiel ins Wasser und wurde von der DLRG gerettet. Neun Verletzte und eine Festnahme war das Resultat, den übrigen Fahrgästen wurde die Weiterfahrt untersagt. Das alles geschah um 0 Uhr 45 während einer Charterfahrt. Auf den fahrplanmäßigen Fahrten geht es aber immer ruhiger zu. Vielleicht werden Sie im neuen Jahr auch mal Fahrgast auf der Reinickendorf, nun für 199 Personen zugelassen, ein Schiff, das dann 104 Jahre alt wird.

Der Winter war früher in Tegel strenger. Unter dieser Überschrift berichtete im April 1936 die Nordberliner Tagespost über „Mutter Senge“. Die damals 79-Jährige wohnte im Dachgeschoss des Hauses in der Hauptstraße 8 (heute wäre dies Alt-Tegel 20), während sich im Erdgeschoss eine Sanitätswache des Roten Kreuzes befand. Witwe E. Senge hatte ihr gesamtes Leben ausschließlich in Tegel verbracht. Damals hatten wir, weil von der Berliner Luft noch nichts zu merken war, noch einen richtigen Winter, da war der See regelmäßig zugefroren, oft sogar bis in den April hinein. Soweit wir als Kinder Zeit hatten, tummelten wir uns lustig auf dem Eis und sahen den fremden Schlittschuhläufern zu, die auf gefegter Bahn von Spandau herüberkamen und bei Marzahn im Dorfkrug Kaffee tranken. Nachts verursachte das berstende Eis oft ein solches Donnergetöse, dass man kaum schlafen konnte. So die Erinnerungen der alten Frau in dem Zeitungsartikel.

Doch war das wirklich so? Blicken wir hierzu in das 19. Jahrhundert. Es gibt wohl aus dieser Zeit keine Tegeler Wetteraufzeichnungen, wohl aber solche aus Berlin. Beobachtungen aus den Jahren 1849 – 1864 sagen folgendes aus:

  • Monat Januar über 50 durchschnittlich 1,44 Tage, höchste Zahl 5 Tage.
  • Monat Februar über 50 durchschnittlich 2,15 Tage, höchste Zahl 5 Tage.
  • Frostwechsel durchschnittlich 5,27 mal, höchste Zahl 11 mal, ge- ringste Zahl 0 mal.
  • Durchschnitt der höchsten Tagesmittel 7,370, Monatsmittel 0,530, Durchschnitt der niedrigsten Tagesmittel -7,690.
  • Der erster Frost trat durchschnittlich am 3. November, frühestens am 13. Oktober und spätestens am 16. November auf. Der letzter Frost wurde durchschnittlich am 17. April, frühestens am 31. März und spätestens am 7. Mai festgestellt.
  • Zu beachten ist, dass damals die Temperaturen noch in Reaumur gemessen wurden (0,80 Reaumur = 10 Celsius).

Genug der Daten und Zahlen. Kommen wir nun zu Freud und Leid, die sich den Bewohnern Berlins und des Dörfchens Tegel in der Winterzeit des vorletzten Jahrhunderts boten. Saatwinkel war bereits zu dieser Zeit ein bei den Berlinern beliebtes Ausflugsziel. „Cafetier“ Schmock bewirtschaftete hier das Restaurant Blumeshof. Das Nachbargrundstück des Tabagisten Lange hatte er 1851 hinzugekauft und damit „den eigentlichen Saatwinkel“ besessen. Mit Neptuns- und Anglerfesten, Wasserfeuerwerken und anderen Veranstaltungen lockte er viele Berliner an. Dies geschah auch im Winter. Als im Januar 1857 das Petitpierre´sche1 Normalthermometer 5 ½ Grad Kälte anzeigte und die Gewässer in und um Berlin zugefroren waren, warb Schmock am 11.1. d. J. mit folgender Anzeige:

Die größte noch nicht dagewesene Eisbahn
Nach dem Saatwinkel und von dort nach Spandau und Tegel, empfehle ich einem geehrten Publikum zur geneigten Benutzung. Der Aufgang ist nicht vor, sondern hinter dem Hamburger Bahnhofe; für Speisen und Getränke werden die Herren May und Schmock im Saatwinkel bestens sorgen. C. Schmock

Zwei Tage später war nur noch ½ Grad Kälte und dichter Nebel, der von Tauwetter über frischen Schnee bis zu Eis alles vermuten ließ. „Auf dem neuen Canal“, so schrieb eine Zeitung am 14.1., „kann man von der Gegend des Hamburger Bahnhofes aus bis nach Spandau Schlittschuh laufen. Und ein geübter Schlittschuhläufer hält bekanntlich eine ziemliche Strecke gleichen Schritt mit einem trabenden Pferde, zumal wenn es edle Rosse von so ´langer Erfahrung´ sind, wie die Schweizer neuerdings in Baiern angekauft haben.“

Ein Jahr später verstarb Schmock. Am 7.1.1858 wurde er beerdigt. Zum Begräbnis fand sich eine große Anzahl Berliner ein, die oft hier verkehrten. Da sich auf dem Tegeler See gerade Eis gebildet hatte, schnallten sich einige Personen nach dem Leichenbegängnis Schlittschuhe an und vergnügten sich auf dem See. Besonders tragisch war, das am Abend einer der Schlittschuhläufer, der Kaufmann Hinzpeter, vermisst wurde. Er war in die Nähe einer Luhme2, so die damalige Formulierung, geraten und auf dem Eis eingebrochen. Seine Leiche fand man erst am nächsten Tag.

Mit dem Wintervergnügen 1879/80 war es in Berlin „schwach bestellt“. Schlittenfahren und Schlittschuhlaufen kannten viele Berliner nur vom „Hörensagen“. Kleine, künstlich gegossene Eisflächen zwischen Häusergrundstücken galten nur als „Surrogat des Eissports“. Die früheren Eisbahnen vom Hamburger Bahnhof nach Saatwinkel, Tegel und Spandau gab es nur noch verkürzt ab Schleuse Plötzensee, also ½ Stunde von Berlin entfernt. Von hier an bot sich aber „der wahre Zauber des Schlittschuhlaufens“, man konnte „mit Eisenbahngeschwindigkeit“ die Landschaft durchfliegen. Ende Januar schien die Sonne auf eine weiße Schneedecke. Vorbei ging es an Haselhorst, rote Dächer leuchteten von Saatwinkel aus. Hier bot sich eine „Wärmestation“ an. Auf dem weiteren Weg nach Tegel „grüßte“ auf dem sonst so stillen See Geschützdonner, gefolgt von gewitterartigem Echo. In Tegel gab es reichlich Gelegenheiten, um Station zu machen. Zurück in Richtung Spandau waren immer mehr dichte Gruppen mit „famosen Piekschlitten“ unterwegs, auf denen Frauen und Kinder saßen. Vom Gasthaus auf Valentinswerder her erklang Tanzmusik. Nach dem letzten Abschnitt auf Schlittschuhen bis Spandau bot sich die Rückfahrt nach Berlin mit der Eisenbahn an. „Drei mal in einem Winter diese Tour erspart einmal Karlsbad“, lautete eine Devise.

Übrigens standen im Winter 1885/86 an der über den Tegeler See führenden Eisbahn Wachtposten, wenn auf dem Artillerie-Schießplatz in der Jungfernheide geschossen wurde. Mit entsprechende Tafeln warnten sie die Passanten auf dem Eis vor einer Annäherung an das Ufer. Immerhin war am 16.2.1886, so die Bahnkontrolleure, in Richtung der Insel Reiswerder eine Granate auf das Eis geflogen und hatte die Eisdecke durchschlagen.

Das Betreten des Eises forderte mit trauriger Regelmäßigkeit Todesopfer, auch wenn teilweise Rettungsapparate segensreich eingesetzt werden konnten. Der Seglerklub „Tegelsee“ hatte in seinem Gründungsjahr 1886 einen solchen Apparat im Spätsommer auf Valentinswerder aufgestellt. Gleich drei Menschenleben konnten dadurch im Februar 1887 an einem Tag gerettet werden. Von einem Verunglückten hieß es, das er 36 Minuten ausgehalten hatte, nachdem er auf dem Eis einbrach.

Besonders gefährliche Stellen der Oberhavel waren die Brücke am Heiligensee und die Wehre nach Spandau zu, der einstigen Kolonie Tegelort gegenüber. Hatte das Eis eine gewöhnliche Stärke von 6-8 Zoll3, dann erreichte es an diesen Stellen nur ½ Zoll. Berüchtigt war in einiger Entfernung von Valentinswerder „Stecherts Loch“4, wo durch Strömung und warme Quellen nur ein leichtes Gefrieren des Wassers einsetzte. Im Januar 1889 brachen hier gleichzeitig zwei Schlittschuhläufer ein. Ein sich zufällig auf Scharfenberg aufhaltender Berliner hörte die Hilfeschreie und rettete die Verunglückten unter eigener Lebensgefahr vor dem Ertrinken. Eine Belohnung von 50 Mark lehnte er ab. Später erhielt er für seine mutige Tat eine Rettungsmedaille.

Soweit der erste Teil des Beitrages „Einst zur Winterzeit in Tegel“. In der Fortsetzung u. a. die Themen Eisfahren mit dem Rennwolf, Pachthöhe und Dauer für Touren-Eisbahnen, Landbriefträger auf dem Eis, ungeheizte Straßenbahnen, Schlitten als Straßenbahnersatz und Eisernte.

1 E. Petitpierre war „Opticus und Mechanicus“ Seiner Majestät des Königs und akademischer Künstler. An seinem Geschäft Unter den Linden 33 war außen ein Riesen-Barometer und Thermometer angebracht.

2 Aufgeschlagene Wasserstelle

3 1 Zoll = 2,54 cm.

4 Zwischen Großem Wall und „Kreuzecke“ gelegen. In den 1840er Jahren soll hier eine Familie Stechert (Vater, Mutter, vier Kinder) eines abends auf einem Schlitten auf der Strecke von Valentinswerder nach Spandau auf dem Eis eingebrochen und dann ertrunken sein.

Januar 1881

Januar 1883

Im 19. Jahrhundert gaben die Pächter von Kunst- und Natureisbahnen ihren Anlagen gern Namen. Sie hießen dann Russische, Sibirische, Nordische, Schwedische, Riesen-, Monstre- oder Germania-Eisbahn. Fr. Scheka und F. Pusch , in den 1880-er Jahren Pächter der Bahn von der Plötzenseer Schleuse bis Saatwinkel, Tegel, Spandau, Valentinswerder und Heiligensee, nannten sie Victoria-Eisbahn. Wurden vielleicht noch Militärkonzerte angeboten und die Bahnen abends illuminiert, war der Besuch tausender Freunde des Eislaufes gewiss. Die königliche Regierung in Potsdam verpachtete die Touren- (Natur-) Eisbahnen für eine Dauer von jeweils sechs Jahren. Ende der 1880-er Jahre hatte die Eisbahn der Oberhavel von Spandau bis Tegel der Spandauer Restaurateur Adami für einen Preis von 3600 Mark pro Jahr gepachtet. In früheren Jahren betrug die Pacht sogar bis zu 6000 Mark pro Jahr. Dafür wurde dem Pächter das Recht erteilt, eine Gebühr von den Personen zu erheben, die die Eisbahn beschritten. Adami legte 20 Pfg. pro Person fest. Die Einnahmen eines Tages, beispielsweise am Sonntag, den 9.1.1887, konnten für den Pächter durchaus etwa 1000 Mark betragen.

Doch verschiedene Personen weigerten sich, die 20 Pfg. zu zahlen, u. a. die Bewohner der Insel Valentinswerder und auch der beim Wasserwerk Tegel beschäftigte Materialverwalter Gallo. Gegen den Letztgenannten klagte Adami beim Amtsgericht II in Berlin und gewann den Prozess. Hingegen entschied das Landgericht II auf die Berufung Gallos zu dessen Gunsten, weil es sich um einen öffentlichen Fluss handelte, der für Jedermann freistand (1890).

Die Bewohner von Valentinswerder passierten die Linie der Fähre über das Eis unentgeltlich.

Der Spandauer W. Mahnkopf inserierte am 31.12.1892, dass die von ihm gepachtete Eisbahn zwischen Spandau, Saatwinkel und Tegel eröffnet wurde. Auch er nahm 20 Pfg. pro Person, von Kindern unter 14 Jahren 10 Pfg.

War die Eisbahn auf dem Tegeler See schneefrei und spiegelblank, dann lockte sie sonntags aus Berlin die „mit stählernen Kothurn“1 Beladenen „in hellen Haufen“ an. Mitte Februar 1886 hatte das Eis zum Beispiel eine Stärke von 11 Zoll erreicht. Es konnte selbst mit Pferd und Wagen befahren werden. Ansonsten zog die von Gendarmen beaufsichtigte und mit Strohwischen abgegrenzte Eisfläche auch „Velociped-Reiter“2, Frauen und Kinder auf Familienschlitten sowie einzelne Piekschlitten-Fahrer3 an. Alle möglichen Uniformen von Soldaten der nahen Schießschule waren zu sehen. Zur Masse der Schlittschuhläufer gesellten sich Freunde des Segelschlittensports. Sie hatten sich aus zwei leichten Stangen und einem Stück Leinwand ein dreieckiges (sogenanntes lateinisches) Segel gefertigt. Die Vertikalstange erhielt oben einen ledernen Handgriff, die Horizontalstange am Ende eine Fangschnur. Während die Vertikalstange, am Gürtel befestigt, mit einer Hand nach oben gehalten wurde, hielt die andere Hand das Segel an der Fangleine. Ein paar Stöße, die Füße nebeneinander, und schon setzte sich der Wind in das Segel und trieb den Läufer mit bedeutender Schnelligkeit voran. Hinzu kamen Rennwolf-Fahrer, die ihr Gefährt selbst herstellten. Dazu waren zwei Stangen, zwei Meter lang, an einem Ende etwas gebogen, erforderlich. Wie die Schienen eines Schlittens nebeneinander gelegt, vorn durch eine Querleiste verbunden, dahinter ein niedriges Joch und einen halben Meter weiter eine starke und breite Querleiste, um darauf zu stehen. Vor der letztgenannten Querleiste noch ein höheres Joch für das Abstützen der Hände – fertig war der Rennwolf. Stützte man sich nun nach vorn auf das Joch und stieß mit einem Fuß kräftig nach hinten aus, dann schoss der Rennwolf pfeilschnell über Schnee und Eis. Auch große Gepäckstücke ließen sich so gut transportieren.

Am 2.5.1894 trat im Amtsbezirk Tegel eine Polizeiverordnung in Kraft, nach der das Betreten des Eises nur innerhalb der durch Pfähle bezeichneten Grenzen der polizeilich zugelassenen Eisbahnen gestattet war. Später (1904) wurde eine „Eispolizei“ geschaffen. 13 „Eispolizeibezirke“ entstanden für die Spree, Havel und Dahme sowie die Seen der Umgebung. Damit sollten bei Geldstrafen bis zu 60 Mark Unglücksfälle auf den Eisflächen verhütet werden. Zudem erschien im Januar 1905 zum Preis von nur 60 Pfg. eine Eislaufkarte der Havel von Tegel bis Ketzin. Hier wurden gefährliche Stellen in blauer Farbe und empfohlene Touren durch rote Linien dargestellt. Eisenbahnstrecken, Chausseen und Wirtschaften am Ufer fehlten auch nicht.

In der Zwischenzeit traten Veränderungen ein. Ende Dezember 1899 schrieb eine Zeitung:
„Die großen Eisbahnen der Havel, oberhalb von Spandau bis Tegel und Heiligensee und unterhalb Spandaus nach Potsdam sind zu Weihnachten eröffnet worden, nachdem sie seit nahezu zehn Jahren wegen der milden Winter nicht mehr in voller Ausdehnung benutzt werden konnten.“

1901 betrug die Pacht für eine Eisbahn nur noch 1000 Mark/Jahr, wobei ein Pächter Mühe hatte, selbst diesen Betrag zu vereinnahmen. Ein Grund war auch der möglichst lange Verkehr von „Fabrikdampfern“ auf den zufrierenden Gewässern.

Soweit unsere eher positiven Betrachtungen vergangener Winterzeiten in Tegel. Es gab aber auch Berufe und Geschehnisse, die die unangenehmen Seiten von Frost und Schnee widerspiegelten.

Als am 3.3.1871 das Königliche Domainen-Polizei-Amt Spandau „die große und kleine Garnfischerei auf der Ober- und Unterhavel bei Spandau, auf dem Tegelschen und Malchow-See, sowie den Stintefang und die Rohrnutzung auf dem Tegelschen See“ für die Zeit v. 1.6.1871 – 1.6.1877 zur Pacht ausschrieb, erhielt der weiter oben bereits erwähnte Fischer Mahnkopf als Meistbietender den Pachtzuschlag. Während seiner Berechtigung hatte Mahnkopf u. a. im Januar 1876 eine Luhme in das Eis geschlagen und diese mit aufgehauenem Eis und Wasserpflanzen vor einer möglichen Gefahr gesichert. Ein Gendarm hielt die Vorsichtsmaßnahme für ungenügend und zeigte den Fischer an. Mahnkopf rechtfertigte sich vor dem Polizeirichter des Kreisgerichts damit, dass der Tegeler See keine öffentliche Straße sei und dass „die Schlittschuhläufer nicht für ein denselben benutzendes Publicum zu erachten seien“. Hilfsweise wurde noch vorgebracht, dass die um die Luhme gelegten Eisstücke und Wasserpflanzen doch den gesetzlichen Sicherheitsmaßregeln entsprochen hätten. Der Richter bejahte die erste Frage und verneinte die zweite. Mahnkopf erhielt 20 Mark Geldstrafe, ersatzweise zwei Tage Haft.

Im Januar 1901 erfolgte ein gewaltiger Fischzug bei einer Eisfischerei auf der Oberhavel zwischen Tegel und Spandau. Über 80 Zentner Karpfen und Bleie, durchweg stattliche Exemplare, wurden zu Tage gefördert. Der Aufwand war aber auch erheblich. 16 kräftige Männer hielten das große Garn durch zahlreiche in das Eis geschlagene Löcher in Bewegung, um es schließlich mit den Fischen an die Oberfläche zu befördern. Selbst damals bekannte „älteste Bewohner“ der Fischerdörfer konnten sich nicht an eine solche Ausbeute erinnern.

An den Gewässern der Umgebung von Berlin wurden damals auch Ernten ganz anderer Art vorgenommen. Gemeint sind Natureis-Ernten zu einer Zeit, als der Lebensmittelhandel, die Gaststätten und die Haushalte noch keine Kühlschränke hatten. In Tegel, am See gelegen, gab es bereits in den 1860-er Jahren einen dem Rentier Müller aus der Berliner Wasserthorstraße gehörenden hölzernen Eisschuppen. Der leerstehende, unversicherte Schuppen brannte vor der Winterzeit am 25.9.1869 ab. Im Dezember 1890 ereignete sich in Tegelort beim Bau eines Eisschuppens ein schwerer Unfall. Durch den Einsturz des Neubaus verletzten Trümmer 10 Arbeiter schwer, einer von ihnen verstarb.

Ende 1893 ließen zwei Berliner Brauereien auf einem 4 ½ Morgen großen Gelände am Tegeler See (ganz in der Nähe der später errichteten „Sechserbrücke“) durch 200 Maurer ein 600000 Zentner Eis fassendes massives Gebäude bauen. Schon im Januar 1894 beförderten vier durch Dampfkraft getriebene Schleppwerke täglich 30000 Zentner Eis in das Bauwerk. Im Januar 1904 verstarb hier bei der Eisernte ein Arbeiter dieses Werkes. Der selbständige Schiffer, dessen Boot in Plötzensee lag, bugsierte mit Haken Eisschollen in den sog. Eiswerkkanal. Dabei sprang er im Übermut trotz Verbot des Eiswerkbesitzers von einer Scholle zur anderen. Schließlich rutschte er aus, versank sofort und kam durch einen Schlaganfall zu Tode.

Wenn über eine längere Zeit Frost und damit eine starke Eisbildung einsetzte, dann konnte dies auch Auswirkungen auf Mühlenbetriebe haben. Über den Tegeler See und den Mühlengraben (das Fließ) war die Humboldtmühle darauf angewiesen, dass Lastkähne Getreide anlieferten und Mehl abholten. Ende Januar 1889 war beides nicht möglich. Sowohl die Borsig-Mühle in Berlin wie auch die Humboldtmühle in Tegel kamen zum Stillstand.

In die Winterzeit fiel natürlich stets der Handel mit Weihnachtsbäumen an. Im Dezember 1871 hatten Forstbeamte im Spandauer Forst, der Jungfernheide und dem Grunewald in aller Stille einen großen Teil der ihnen am besten als Christbäume geeigneten Stämme markiert und vor dem Fest in Begleitung von Schutzleuten Razzien auf den Verkaufsstellen vorgenommen. Eine nicht unerhebliche Zahl an gekennzeichneten Bäumen wurde in Beschlag genommen.

Landbriefträger Lucke mit einem Piekschlitten.

Auf die Winterzeit hatten sich Landbriefträger einzustellen. In Tegel erwies sich Briefträger Lucke „als wackerer Bote Stephans“4. Ende November 1884 versank er bei der Zustellung bis zur Hüfte im Schnee. Trotzdem legte er wie gewohnt seine Tour über Schulzendorf, Heiligensee, Laakenberge (chem. Fabrik), Konradshöhe und Tegelort zurück, wenn auch vielleicht mit einer Stunde Verspätung. Auch zum Abend hin trat er seine Tour noch einmal an, musste dann aber hinter Schulzendorf auf dem Weg Richtung Heiligensee doch umkehren. Der Kreisgang machte 25 – 30 km aus!

Zwei Landbriefträger waren für die tägliche Zustellung der Postsendungen von Spandau aus nach Valentinswerder, Saatwinkel, Sägewerk, Salzhof, Hakenfelde usw. zuständig. Bei ausreichender Eisbildung wie im Januar 1887 fuhren die tüchtigen Läufer mit den um die Hüften geschnallten Postsendungen auf Schlittschuhen über spiegelglatte Eisflächen zu den Zustellorten. Schneller als sonst erhielten die Adressaten ihre Post, denn die Briefträger ersparten sich die sonst langen Wege auf dem Land. Das Eis hatte Mitte des Monats eine solche Stärke, dass die Gastwirte bereits ihre Eiskeller füllten.

Als im Juni 1881 eine (Pferde-) Straßenbahnlinie zwischen Berlin und Tegel eingerichtet wurde, fand dies viel Zustimmung bei den Großstädtern wie bei den Bewohnern des Dorfes. In der Winterzeit sollten sich dann aber auch die Nachteile zeigen. So meldete am 15.1.1895 eine Zeitung, dass sich auf der Tegeler Linie geheizte Wagen vorzüglich bewährt haben. Im Inneren war eine um 10 – 12 Grad höhere Temperatur als im Freien. Allerdings wurde in diesem Winter erst zweimal geheizt! Am 6.2.1897 hatten die Pferdestraßenbahnen unter starkem Schneefall zu leiden. Einzelne Linien nach den Vororten mussten ihren Betrieb einschränken. Nach Tegel wurden die Fahrgäste mit Schlitten befördert! Im Dezember 1902 bestand die Vorschrift, dass Straßenbahnwagen ab einer Temperatur von – 1 Grad C zu heizen waren. Doch die Schaffner erhielten zu kleine Kohlenmengen. Am 1.12.1902 beschwerte sich ein Fahrgast beim Schaffner um 10 Uhr morgens über die empfindliche Kälte auf der Linie Tegel – Oranienburger Tor. Der Schaffner erwiderte, dass sein Vorrat bereits verbrannt sei und er vom Depot trotz Bitte keine weiteren Kohlen erhalten habe. Im Januar 1903 mussten Schulkinder und andere Personen bei starker Kälte auf den Verdecksitzen Platz nehmen.

Damit enden unsere unvollständigen Betrachtungen einstiger Winterzeiten in Tegel.

1 Eigentlich ein hoher Schnürschuh, Bühnenstiefel.

2 Radfahrer.

3 Zum Piekschlitten gehörten zwei Stäbe, unten mit eisernen Stacheln, die der Fortbewegung dienten.

4 Heinrich von Stephan (1831-1897) war Generalpostdirektor.

 

Von Erich Vogeler

Ich habe mir eine Freundin angeschafft, denn es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Ich habe lange gesucht: Gott, man wird so wählerisch mit den Jahren. Was sie auch alles für Tugenden haben sollte. Die Hauptsache war aber doch die Schlankheit. Schlank, sehr schlank. Zwar warnte mich der sachverständige Mann, den ich um Rat fragte, und durch dessen Hände schon sehr viele gegangen. „Die Schlanken,“ sagte er, „die Schlanken haben gewiss ihre ästhetischen Reize, aber, aber – sie sind ein bisschen gefährlich.“ Ich lächelte. „Spiel und Gefahr, dass ist´s doch, was der echte Mann sucht.“

Wir gingen am Ufer des Tegeler Sees entlang, den Pappel- und Weidenweg am Kran und der Bootsbauerei vorüber. Es war im Frühjahr, und ein leiser, zitternder Sprühschauer bog die schlanken, schmächtigen Pappeln … „Ich liebe nun mal die Schlankheit,“ sagte ich.

Ein paar Wochen später hatte ich meine schlanke Freundin. Nun ja, es gab Augenblicke, wo ich an die Warnung recht peinlich erinnert wurde, wo ich mich glatt reingefallen fand. Aber was macht das! Spiel und Gefahr, spricht Zarathustra1. Dazu hatte ich sie mir doch angeschafft. Sie ist so schön, meine Freundin, meine schlanke Freundin.

Cäcilie heißt sie. Könnte sie mit diesem Namen dick und rund sein und breit wie eine Flunder? Könnte man auf eine Flunder solche schmelzenden Cäcilianen dichten, wie ich auf meine Freundin? Und wie wundervoll ihre Schönheit im Rahmen steht, wie sie ins Bild, in die Milieustimmung passt!

Im Gebirge, ich gebe zu, im Gebirge würde sie etwas deplaciert, vielleicht sogar lächerlich wirken. Aber hier in Tegel mit dem blauen See und dem weichen Dunkel seiner Uferbüsche und den Lichtern und der Musik des Abends ringsherum, hier ist sie zu Haus, ein Tegeler Kind. Man muss sie sehen, wenn sie im lichten, weißen, leicht geblühten Kleid am Strand steht im sonnigen Wind, auf dem Hintergrund des perlmutterschimmernden Sees. Sie wiegt sich leise in den Hüften. Oder Abends, wenn sie still wird, und ihr Gang so etwas Nachdenkliches bekommt, wie ein verspätetes Lied. Wie schön ist dieses Bild, dieses weiße vergleitende Bild vor dem Dunkel des Sees!

Bei dem Segelboot Höhe Liebesinsel handelte es sich wohl nicht um die von Erich Vogeler beschriebene „schlanke Cäcilie“.

O, und man muss sie tanzen sehen. Diese Leichte, Federnde, Sichere, ein Tänzeln, ein Spielen, ein schimmerndes wiegendes Lächeln; ich brauche sie gar nicht zu führen. Aber dann kommt plötzlich die Leidenschaft über sie und mit geblähten, zitternden Nüstern jagt sie dahin. Ah, Rasse hat das Mädel. Wie ein Schrei der Sehnsucht, mit dieser jähen, scharfen, schneidenden Grazie. Da lieb´ ich sie am meisten, wenn sie gefährlich wird. Sie wirft sich nach rechts und wirft sich nach links, eine rauschende Wildheit. Durchgehen möchte sie am liebsten. Aber ich halt´ sie im Zaum, mit sicherer Hand, ich, der Mann …

Wie sie sich ergibt, der Wirbel ist verweht, es wird Abend, und die Stille kommt und die Sterne. O, wie wundervolle Nächte! Dann kommt etwas Träumerisches über sie, und eine Zärtlichkeit. Am Rande der „Liebesinsel“ liegen wir, ich hab´ mich ausgestreckt in ihren gebogenen Arm und schaute in den Mond und die Stirne. Sie wiegt mich ganz leise und summt ein Lied zu der Musik, die von ferne kommt …

Wenn sie nur nicht immer wieder so launenhaft wäre. Aber diese Weiber! Sie können nicht anders. Plötzlich wollen sie durchaus nicht so wie unsereins. Dann werden sie böse: Man soll kein Träumer sein, handeln soll man, ein Mann soll man sein! Ha, sie ergrimmt, sie reißt sich hoch, und eh´ ich mich versehe, hat sie mich boshaft ins Wasser geworfen. Und dann kommt natürlich das gute Gemüt in ihr auf, sie stürzt sich sofort nach, den Kopf voran, und trägt mich auf ihrem Rücken ans Land.

An Regentagen ist nicht viel mit ihr zu wollen, dann bekommt sie leicht ihre melancholischen Anfälle, wird sentimental und fängt an, mich zu plagen: „O, du liebst mich lange nicht so zärtlich mehr! Du bist mir nicht treu genug. Ich weiß, du denkst daran, dass du mich bald wieder loswerden willst.“ Gott ja, bei Regenwetter kann sie einen schon langweilen. Bloß Unkosten und kein Vergnügen. Und wenn nun gar erst der Winter kommt. Im Winter liebt man das Häusliche und Mollige. Da ist meine schlanke Freundin nicht zu gebrauchen. Sie ahnt schon richtig; ich denke bereits manchmal daran, wie ich sie zu gegebener Zeit wieder auf anständige Weise wieder loswerden kann. Wenn sie meine Tante Ida wäre, würde ich ihr einfach Räder untersetzen und sie an die Autobusgesellschaft veräußern. Aber meine schlanke Cäcilie? Zwar sagte mir der sachverständige Mann, man könnte ihr für den Winter Schlittenkufen besorgen, und dann könnte ich, wenn der Tegeler See hält, mit ihr Segelschlitten fahren. Aber ich weiß doch nicht, ob meine schlanke Freundin ohne weiteres mit sich Schlittenfahren lässt.

Manchmal, ach, manchmal befällt mich auch eine trübe Ahnung, dass sie mir vielleicht noch eher untreu werden könnte, als ich ihr. Sie sieht bisweilen so voll schmachtender Unruhe in die Ferne. Diese modernen Weiber warten alle so auf das „Wunderbare“. Und vielleicht kommt wirklich eines Tages solch ein märchenhafter blauer Wundervogel und entführt mir die Freundin.

Und am nächsten Tage steht in dem „Tegeler Anzeiger“ zu lesen: „Zwangsversteigerung. Ein schlankes Segelboot meistbietend zu verkaufen. Der Gerichtsvollzieher.“

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Anmerkung:

Bei dem Artikel handelt es sich um den Nachdruck eines 1913 in deutscher Sprache im „Scranton Wochenblatt“ (gegründet 1865) veröffentlichten Beitrages. Scranton ist eine US-amerikanische Stadt im Bundesstaat Pennsylvania.

Gerhard Völzmann

1Lehrte im 2. oder 1. Jahrtausend v. Chr. als Priester.

Die Gründung eines „Ballon-Detachements“ ging auf den 1.6.1884 zurück. Der „Reichsanzeiger“ berichtete hierüber folgendes:

Zur Vornahme von Versuchen mit ballons captifs1 ist die Formirung eines dem Allgemeinen Kriegs-Departement direkt unterstellten Ballon-Detachement vom 1. k. M. ab vorläufig auf die Dauer eines Jahres angeordnet worden. Dasselbe wird bestehen aus 1 Hauptmann, als Vorsteher der Versuchsstation, 1 Premierlieutenant, als Mitglied und Führer des Detachements, 2 Secondelieutenants, 1 Luftschiffer als technischem Beirath der Commission und Werkstatts-Inspektor, 4 Unteroffiziere und 25 Mann der Infanterie. Als Vorsteher der Versuchsstation ist der Hauptmann Buchholtz vom Eisenbahn-Regiment designirt; die Unteroffiziere und Mannschaften, letztere zum größten Theil Handwerker, werden vom Gardecorps und den ersten acht Armeecorps gestellt. Als technischer Beirath ist der Luftschiffer Opitz in Aussicht genommen; das Gehalt desselben ist auf 2400 Mark normirt. Das Detachement tritt am 1. k. M. im hiesigen Ostbahnhof zusammen, woselbst auch die Unteroffiziere und Mannschaften untergebracht werden.

Das Ballon-Detachement, aus dem sich 1887 die Luftschiffer-Abteilung entwickelte, befand sich am Rande des Tempelhofer Feldes an der General-Pape-Straße. Ein eigener Übungsplatz stand dem Detachement zunächst nicht zur Verfügung. So startete zum Beispiel am 31.1.1885 ein kleiner, durch die Mannschaft selbst erbauter Ballon in Schöneberg, und zwar vom Garten des Restaurants „Schwarzer Adler“ aus in die Luft. Fanden Übungen auf dem Tegeler Artillerie-Schießplatz statt, dann wurden zwei Wagen komplett mit Utensilien für die Luftschifffahrt bepackt. Hierzu gehörten neben einem Ballon Gondeln, Netze, Stricke usw. In Berlin ging es mit viel Aufsehen die Potsdamer Straße entlang. Den Wagen folgte die Mannschaft in Reih und Glied. Nachts wurde in Tegel ein Wachdienst erforderlich, da der Ballon nach jedem Gebrauch „gefüllt und gefesselt“ auf dem Schießplatz verblieb.

Im Mai 1894 explodierten in Schöneberg Wasserstoffgasbehälter. Nun schien die Lage des dortigen Luftschiffer-Übungsplatzes für die Umgebung zu gefährlich. Eine Verlegung nach Tegel wurde erwogen. Hier fehlte allerdings die Nähe zur Eisenbahn, um die Luftschiffer in alle Richtungen befördern zu können. Zudem verhinderte ein Veto des Kaisers eine schnelle Verlegung. Zum 1.10.1894 genehmigte der Kaiser die Abkommandierung von je 10 Leutnants der Infanterie, Kavallerie und Artillerie für die Dauer eines Jahres zur Luftschifferabteilung. Nur ältere Sekonde- und Premierleutnants waren vorgesehen.

Im Oktober 1896 hieß es dann, eine Kaserne in Tegel zu errichten, wenn der Reichstag zustimmen würde. Im Dezember 1898 wies der Reichshaushaltsetat eine erste Baurate von 400000 Mark für eine Kaserne und einen Übungsplatz der Luftschifferabteilung in der Nähe des Tegeler Schießplatzes aus; mit Gesamtkosten von 1210000 Mark wurde zu dieser Zeit gerechnet. Als Standort wurde ein Areal am Tegeler Weg, dem heutigen Kurt-Schumacher-Damm, festgelegt. Für den „Neubau eines Kasernements“ wurden im Zeitraum von Juni bis August 1900 Ausschreibungen vorgenommen, die die Vergabe von Dienstleistungen wie z. B. Geländeregelung, Gartenarbeiten, Erd- und Maurerarbeiten zur Errichtung der Gebäude bis hin zur Materiallieferung wie z. B. Klinkersteine und Mörtel beinhalteten. Zudem erklärte sich der Berliner Magistrat im September 1900 bereit, die neuen militärischen Gebäude mit städtischem Gas zu beleuchten und Gas auch in großen Mengen für die Füllung von Ballonen zur Verfügung zu stellen. Ein widerrufbarer Vertrag mit einer Laufzeit von 10 Jahren wurde genehmigt.

Nach einer Bauzeit von rund einem Jahr und einer Innenausstattung ab Mai 1901 konnte am 30.9.1901 die neue Kasernenanlage bezogen werden, die wir nun in einem historischen Rückblick eingehend besichtigen wollen.

Es gibt wohl keine Caserne, welche dieser an die Seite gestellt werden könnte, sowohl in Bezug auf die Lage selbst, sowie auf Größe und Anlage. Es ist eine kleine Welt für sich. So euphorisch wurde damals berichtet. Das Terrain war 500 m lang und 200 m breit und von einem hohen Bretterzaun umgeben. 15 massive, steinerne Gebäude standen auf der Anlage, „manche architektonisch schön“ ausgeführt. Das galt besonders für jenes Haus, in dem das Offizierskasino untergebracht war. Zwei Mannschaftsgebäude standen zur Verfügung. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass ab 1.10. d. J. die bisher eine Kompanie der Luftschifferabteilung durch eine zweite verstärkt wurde. Sie war 60 Mann stark und bestand neben Rekruten aus Männern der Eisenbahnbrigade. Beide Kompanien erhielten nun auch eine Bespannungs-Abteilung, für die sämtliche Trainbataillone 10 Unteroffiziere, 60 Mann und 70 Pferde abgaben.

Während sich in beiden Mannschaftsgebäuden eine Offizierswohnung befand, erhielt der Kommandeur des Bataillons natürlich ein eigenes Gebäude, das gegenüber dem im Bau befindlichen Büro des Aeronautischen Observatoriums lag. Vor den beiden Kompanie-Kasernen waren das Bürogebäude und das Beamtenwohnhaus. Direkt an der Straßenfront befanden sich im dortigen Haus die Wohnungen der verheirateten Unteroffiziere. Jede Familie erhielt einen Garten. Hauptmann von Tschudi als Vertreter der Interessen des Truppenteils hatte „in väterlicher Fürsorge“ schon zu Beginn der Bauarbeiten auf die Gärten so geachtet, dass bereits beim Einzug einzelne Obstbäume Früchte trugen.

Eine elektrische Zentrale war sozusagen das Herz der Anlage, ausgeführt von der Electr.-Act.-Ges. vormals Schuckert & Co. Zwei Dynamomaschinen der Akt.-Ges. „Badenia“ lieferten die Kraft. Elektrische Batterien verfügten über 120 Zellen. Eine eigene Müllverbrennungsanlage war wohl vorgesehen, aber noch nicht fertig. Abwässer wurden in einem eigenen Wasserwerk nach dem sog. Schroederschen System behandelt. Wie bereits in Tempelhof existierend, floss das völlig geklärte Wasser in einen nahe gelegenen Teich ab.

Veranschlagte Gesamtkosten einzelner Bauanlagen (Auswahl):

Ein Mannschaftshaus                  113.000 M
Beamtenwohnhaus                        74.000 M
Wohngebäude f. Verheiratete     30.200 M
Offizierskasino                               82.000 M
Motorenhaus mit Wasserturm    92.600 M
Wasserstoffgasfabrik                     24.000 M
Ballonhalle                                     140.000 M
Kommandeurwohnhaus                59.400 M

Alle Baulichkeiten waren mit elektrischen Kontrollapparaten der Berliner Firma Hammacher u. Paetzold versehen. Sämtliche Uhren wurden von der Zentrale aus reguliert. Hier befand sich auch eine elektrische Ballonwinde. Über ein unterirdisches Kabel, das bis zum großen Übungsplatz reichte, konnten so Ballons aufgelassen werden.

Ein Stall für etwa 60 Pferde befand sich natürlich gleich neben der Reitbahn. Eine dreietagige, 27 m hohe Ballonhalle aus Wellblech mit einer Grundfläche von 1787,1 m2, elektrisch beleuchtet, wurde durch sechs mächtige Bänder gestützt. Die Bauanstalt für Eisenconstructionen von D. Hirsch aus Berlin hatte die Halle ausgeführt. Ein einzige Mann konnte mittels einer Kurbel alle Fenster gleichzeitig öffnen. Auf dem Doppelpappdach stand ein Mast für die Funkentelegrafie, die Hauptmann von Sigsfeld bediente. Der Bodenbelag der Halle bestand aus Pyrament, einer Mischung aus Papier und Zement. Mit Hilfe eines elektrischen Ventilators lies sich Gas von einem Ballon zu einem anderen umfüllen. Auf dem Areal durfte auch eine Gasanstalt nicht fehlen, um Wasserstoffgas zur Ballonfüllung herstellen zu können. Ein besonderes Haus war für die Gas-Komprimierung vorgesehen, während Schuppen der Lagerung gefüllter und leerer Gasflaschen dienten. Der erstere lag am Waldrand weitab der massiven Gebäude und war mit Erde abgedeckt. Ein fotografisches Atelier, ein Werkstättengebäude, eine Telegrafen- und eine Brieftaubenstation waren noch vorgesehen.

Kommen wir nun noch einmal auf das ja weiter oben bereits erwähnte Offizierskasino (Grundfläche 473,8 m²) zurück. „Reizende Gartenanlagen“, vom Kunstgärtner Hoppe aus Zehlendorf mit viel Liebe geschaffen, lagen vor dem Haus. Eine mit Teppichen belegte Treppe führte zu den im Hochparterre gelegenen Kasinoräumen. Die Wände des Treppenhauses zierten Adler der sechs alten Preußischen Provinzen. Den großen Saal schmückte an der Stirnseite ein in Ziegelrohbauweise kunstvoll geschaffener Kamin. Alle Türen waren in einem ähnlichen Grün wie die Verblendsteine der Außenfassade des Gebäudes gehalten. Weite, Licht spendende Fenster waren mit in Diaphanien2 gehaltenen, von Ballons aus aufgenommenen Fotos geschmückt. Der Speisesaal war einfach gestaltet. Ihn schmückten Fotos des Österreichischen Kaisers, früherer Kommandeure der Luftschiffer-Abteilung und Gruppenbilder Österreichischer und Italienischer Luftschiffer.

25-jähriges Jubiläum der Luftschiffer im Jahre 1909

Insgesamt fehlte in der neuen Kasernenanlage, so ein damaliger Bericht, nicht das Geringste, was als notwendig oder angenehm gesehen wurde. Selbst an einen schmucken Omnibus hatte man gedacht, der die Kinder der Offiziere zum Schulbesuch nach Berlin brachte.

Die Summe der Baukosten für das „Kasernement“ lag für den gesamten Zeitraum von 1899 – 1903 bei 1700489 Mark. Der ursprünglich veranschlagte Betrag von 1759036 Mark wurde damit sogar unterschritten.

Gerhard Völzmann

1Fesselballon
2 Auf Glas gemalte Transparentbilder.